Hundert Jahre Marsch auf Rom: Als der Faschismus Europa zu beherrschen begann

Der Mythos jener letzten Oktoberwoche vor hundert Jahren ist längst gründlich widerlegt. Der „Marsch auf Rom“ in den Tagen ab dem 27. Oktober, der mit dem Regierungsauftrag an Benito Mussolini endete, verlief weit entfernt von der Erzählung, die der „Duce“ dafür erfand. Statt der behaupteten 300.000 Faschisten waren bestenfalls 28.000 auf Italiens Straßen unterwegs. Rom selbst erreichten nur etwa 15.000. Und ihr Anführer kam sogar bequem im Zug aus Mailand.

Seine berühmte Behauptung vor König Viktor Emanuel, er komme „von den Schlachtfeldern“ war schon deshalb eine Lüge. Aber auch Mussolinis Schwarzhemden hatten keine Schlachten geschlagen. Es hatte sie nämlich praktisch niemand aufgehalten. Der Schlamm an ihren Stiefeln stammte sehr wahrscheinlich vom Dauerregen in jenen Tagen. Vor Rom hätten Mussolinis Mannen vor allem mit ihrer Stimmung gekämpft, meint der Italien-Historiker Hans Woller.

Und doch war diese Inszenierung der Beginn des „ventennio“, jener mehr als 20 Jahre faschistischer Herrschaft über Italien, die mit dem Regierungsauftrag des Königs am 30. Oktober begann. Sie sollte Modell werden für die Demokratiefeinde von rechts in ganz Europa.

Nicht zuletzt Adolf Hitler bewunderte Mussolini, auch wenn sich das Verhältnis später verkehrte. Ab 1943 war das einstige Vorbild nur noch als Marionettenpotentat eines Reststaats von Gnaden Deutschlands geduldet, der „Repubblica sociale italiana“ in Salò am Gardasee.

Die Geschichte des „Nazifascismo“, wie man in Italien die beiden Rechtsdiktaturen bündig zusammenfasst, ist bekanntermaßen in keinem der beiden Länder 1945 ganz und gar zu Ende gegangen. Auch in Deutschland blieben, nachdem die erste Reihe der NS-Täter abgeurteilt oder geflohen war, die mal kleineren, mal größeren Stützen des Systems in oft hohen Ämtern: als Beamte, in der Führung von Unternehmen, in der Justiz und auch in der Politik – wie Adenauers Kanzleramtschef Hans Globke, der Koautor der Nazi-Rassegesetze.

Der aktuelle Parlamentspräsident sammelt Duce-Devotionalien

In Italien allerdings ging die Integration des Alten ins Neue noch weiter. Hier wurden nicht einmal faschistische Symbole verboten. Am Olympiastadion in Rom steht bis heute der Obelisk, der „Mussolini Dux“ huldigt, Devotionalien wie Büsten des Diktators und faschistische Literatur werden frei auf Flohmärkten und in Antiquariaten gehandelt.

Die Wohnung des gerade gewählten Parlamentspräsidenten Ignazio La Russa, Mitgründer der regierenden Partei Fratelli d’Italia, ist voll davon. Und in Predappio, dem Geburtsort des Duce in der Emilia-Romagna, halten die Unverbesserlichen Jahr um Jahr Prozessionen zur Krypta ab, wo ihr Idol bestattet ist.

Obwohl Italiens Geschichtswissenschaft sich wohl am intensivsten mit dem „ventennio“ und den Verbrechen des Regimes beschäftigt hat, wie der Historiker Francesco Filippi meint, ist davon wenig ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Der Glaube sei weit verbreitet, dass der Faschismus doch auch viel richtig gemacht habe.

Der Erfolg seines eigenen Buchs, sagte Filippi kürzlich in einem Gespräch mit dem Schweizer Tages-Anzeiger, liefere ein Indiz. Es erschien auf italienisch unter dem Titel „Mussolini hat auch Gutes getan“. „Viele haben es gekauft, ohne den Untertitel zu lesen, im Glauben, dass ein Historiker ihre Überzeugungen stützt.“

Der Untergang der Christdemokratie ermöglichte den Aufstieg des Postfaschismus

Und dennoch hielt ein antifaschistischer Konsens in Italien jahrzehntelang. Die Restposten des Regimes und Faschismus-Nostalgiker:innen waren zwar höchst aktiv, sie sammelten sich in der Partei mit dem vielsagend an Salò anknüpfenden Namen „Movimento sociale italiano“. Doch von der Macht hielten die Parteien des Verfassungsbogens, angefangen bei der Staatspartei Democrazia cristiana, den MSI fern.

Kein Problem mit dem Faschismus. Jedes Jahr - hier im Jahr 2021 - versammeln sich die Unbelehrbaren am Geburtsort Mussolinis Predappio in der Emilia-Romagna und pilgern unbehelligt zu seiner Grabstätte.
Kein Problem mit dem Faschismus. Jedes Jahr – hier im Jahr 2021 – versammeln sich die Unbelehrbaren am Geburtsort Mussolinis Predappio in der Emilia-Romagna und pilgern unbehelligt zu seiner Grabstätte.
© imago images/Italy Photo Press

Auch Christdemokrat:innen hatten im Partisanenkrieg gegen die deutschen Besatzer und den eigenen Faschismus gekämpft, etwa Tina Anselmi, die kürzlich in der Rede von Giorgia Meloni unter den Frauen auftauchte, die sie zum Vorbild nehme.

Und doch regiert jetzt, fast auf den Tag hundert Jahre nach der „Marcia su Roma“, zum ersten Mal eine Partei Italien, die sich als die politische Erbin des MSI versteht. Dass es dazu kommen konnte, hat mit dem Ende auch der DC vor 30 Jahren zu tun, sagt Patrizia Dogliani, Historikerin an der Universität Bologna. Damals verschwand „der weiße Wal“, die ewige regierende Partei, in einem riesigen Korruptionsskandal.

Berlusconi ist stolz darauf, den Bann gelöst zu haben

Die Ermittlungen der Staatsanwälte im Pool „Mani pulite“ fegten seit Februar 1992 – auch dafür ist 2022 ein Jahr der Erinnerung – das politische Establishment davon. Mit dem alten Parteiensystem sei aber noch etwas verschwunden, sagt Dogliani, die über den Faschismus und historisches Gedächtnis geforscht hat: „die Weitergabe der Erinnerung oder zumindest der Legitimierung einer Demokratie, die den Faschismus bekämpft hatte. Damit wurde alles möglich“.

Die heutige Regierung ist das Ergebnis der Allianz, die wir vor 28 Jahren unterschrieben haben.

Silvio Berlusconi, Ex-Premier Italiens

Brauchte es nur noch einen, der die Möglichkeit nutzte. Es war Silvio Berlusconi, der auf den Trümmern der Ersten Republik in die Politik einstieg – und einsammelte, was er bekommen konnte, ohne die Skrupel der Vorgänger. Gleich in sein erstes Kabinett 1994 nahm er Minister des MSI auf. Der Bann war gelöst. Die Partei der alten Kameraden legte im Jahr darauf den Schwur auf die parlamentarische Demokratie ab, indem sie sich als „Alleanza nazionale“ neu erfand.

Berlusconi hat am Mittwoch, bei seiner ersten Rede im Senat – er war neun Jahre lang wegen einer Verurteilung als Steuerkrimineller nicht wählbar – das „sdoganamento“ der extremen Rechten mit Stolz für sich reklamiert: Die jetzige Regierung Meloni sei „das Ergebnis der Allianz, die wir damals besiegelt haben“.

Giorgia Meloni allerdings steht für den Teil, dem die Wende der Alleanza nazionale 1995 schon zu weit ging. In ihren „Fratelli d’Italia“ sammelten sich vor neun Jahren jene, die schwer daran schluckten, dass der damalige Parteichef der AN, Gianfranco Fini, den Faschismus während eines Israelbesuchs sogar als „das absolute Böse“ gebrandmarkt hatte.

Viele Linien verbinden Meloni und den Faschismus

So sehr sie versucht, sich als europäische Konservative zu präsentieren: Meloni hat, mit Stolz, wie sie sagte, das alte Logo des MSI übernommen, die grünweißrote Flamme. Sie buchstabiert das faschistische Motto „Gott, Familie, Vaterland“ mit Unschuldsmiene – was denn so so schlimm sei daran, seine Familie zu lieben, religiös und eine Patriotin zu sein? Ihr Gleichstellungs- und Familienministerium, unter einer Abtreibungsfeindin um die Zuständigkeit für Geburtenrate erweitert, soll jetzt, wie einst, die Italiener:innen zum Kinderzeugen bewegen.

Der wichtigste Verbündete des Faschismus war der Zerfall aller übrigen politischen Kräfte.

Marcello Flores und Giovanni Gozzini, Zeithistoriker

Melonis Demokratiebegriff ist auf das Prinzip reduziert, dass Sieger:innen recht haben – immer wieder verteidigt sie Ungarns Iliberalen Orbán damit, der habe schließlich die Wahl gewonnen – und auch ihre Distanzierungen vom Faschismus sind dürr: Die antisemitischen Rassegesetze des Regimes bezeichnet sie zwar klar als schändlich. Aber zur systematischen Gewalt, zu den politischen Morden des Faschismus von Beginn an und in den späteren völkermörderischen Kolonialkriegen in Nord- und Ostafrika hört man von ihr kein Wort.

Sogar ihre Entschlossenheit, den reddito di cittadinanza abzuschaffen, eine Art Sozialhilfe, die die absolute Armut in Italien der amtlichen Statistik zufolge reduziert hat, ließe sich auf einer Traditionslinie lesen: Schon der Faschismus hatte jenseits der Rhetorik wenig Sinn für Arme und Abgehängte. Selbst die Hungerlöhne der Landarbeiter fielen, statt zu steigen, die in der Industrie ebenfalls. Im ganzen 20. Jahrhundert , schreiben Marcello Flores und Giovanni Gozzini in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Perché il fascismo è nato in Italia“, habe im Faschismus auch die Alphabetisierungsrate in Italien die dürftigsten Fortschritte gemacht. „Nur Spanien unter Franco war schlechter.“

Mussolini kam, weil niemand sich dagegenstemmte

Die beiden Zeithistoriker, die neben der politischen auch in der Sozial-, Wirtschafts- und psychischen Geschichte Italiens nach Gründen für den frühen Aufstieg des Faschismus gerade in Italien suchen, geben übrigens eine knappe Antwort auf die selbstgestellte Frage: Der wichtigste Verbündete des Faschismus sei schlicht „der Zerfall aller übrigen politischen Kräfte“ gewesen.

Der Premier, die parlamentarische Linke – niemand habe gehandelt, teils in der Hoffnung, der Faschismus werde vorüberziehen, teils weil sie darauf setzten, Mussolini werde ihnen dafür dankbar sein.

Auch das erinnert ein wenig an heute: Das nichtrechte Lager trat nicht nur zerstritten zur Wahl an. Es bleibt auch in der Opposition gespalten. Und ein Teil dieser Opposition flirtet bereits in Richtung der neuen Mächtigen.

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