Impotente Helden und ein Preis für Deutschland
Schlägt der neue Festivalleiter von Locarno, der italienische Filmkritiker und Kurator Giona A. Nazzaro, den richtigen Weg ein, wenn er aufs Genrekino setzt? Oder betreibt er Verrat am Autorenkino, wenn er populären Erzählformen den Vorzug gibt? Ist das Genrekino das Autorenkino von morgen? Und schließt das eine das andere vielleicht gar nicht aus?
Um diese Fragen kreisten die Diskussionen nach den Vorführungen auf den 74. Filmfestspielen von Locarno. Sie wurden so leidenschaftlich und heftig geführt, dass ein Kollege einmal sogar vergaß, sein Eis weiter zu essen. Ein weißes Hemd wird zum pistaziengrünen abstrakten Gemälde mit orangenen Kurkuma-Einsprengseln.
Ja, der Gewinnerfilm des Goldenen Leoparden, gedreht von dem 43 Jahre alten, indonesischen Regisseur Edwin, ist so abgefahren, wie es sein Titel verspricht: „Vengeance is mine, all others pay cash“ (auf deutsch übersetzt „Die Rache ist mein, alle anderen zahlen bar“).
Der Film spielt in den 1980-er Jahren und zitiert das Kino jener Zeit, mit dem der Regisseur sozialisiert wurde – Martial-Arts- und Kung-Fu-Filme aus Hongkong, schmuddelige B-Ware aus Hollywood, Revenge Movies – und dekonstruiert es zugleich. Sein Held Ajo ist ein gnadenloser Schläger, ein Auftragsmörder, ein Macho. Und er ist impotent.
Gewalt und der Blick auf Klassenverhältnisse
In einer wunderbar choreografierten Kampfszene in einem Steinbruch kommt er Iteung näher, einer aufbrausenden jungen Frau, die als Bodyguard für sein nächstes Opfer arbeitet. Zwei prügelsüchtige Wesen erkennen ihre Seelenverwandtschaft und verlieben sich ineinander – während das Kino über sich und über die Heldentypologien nachdenkt, die es unentwegt weiter produziert.
Hier geht es um einen Protagonisten der seine Impotenz im Kampf sublimiert und dabei zunehmend spürt, dass er seiner Imago nicht mehr gerecht wird. Umso härter schlägt er zu. Eine Machokultur in Gummilatschen und buntem Hemd führt sich selbst ad absurdum.
Der Rückgriff auf vertraute Genremuster und -motive zog sich als roter Faden durch die diesjährigen Wettbewerbsfilme. Dem Publikum sollte Unterhaltung geboten werden – auch im schönsten dialogischen Sinn. Gleichzeitig sprechen aus diesen Filmen persönliche Weltsichten und Visionen, wird implizit auch Politisches verhandelt.
Schon seit einiger Zeit lässt sich diese Bewegung beobachten, etwa in dem oscargekrönten südkoreanischen Thriller „Parasite“ von Bong joon-ho, der mit gnadenlosem Blick die Klassenverhältnisse in seiner Heimat seziert.
In schöner Beiläufigkeit betreibt auch Edwin Ursachenforschung für die brutalen Exzesse seiner beiden Helden. Ajo und Iteung sehen sich mit einer Umgebung konfrontiert, die von Gewalt und Korruption durchdrungen ist. Wer sich aus diesem System entfernt, begibt sich ins Abseits. Und wenn es auch die Verhältnisse nicht hergeben mögen, so lässt sich wenigstens dieser Film auf die Sehnsüchte seines extremen Traumpaares ein.
Rom fliegt in die Luft
Vielleicht hat Edwin irgendwann auch die blutigen Rache-Geschichten seines US-amerikanischen Kollegen Abel Ferrara gesehen, Filme wie „Killer Driller“ (1979) oder „Die Frau mit der 45er Magnum“(1981). In Locarno wurde Ferrara für seinen dystopischen Thriller „Zeros and Ones“ mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet. Sein Film zeigt die Verlorenheit eines Soldaten in unseren unübersichtlichen Zeiten, fast verzweifelt hält er dennoch an tradierten Männerbilder fest.
Eine nicht weiter definierte Terroreinheit will den Vatikan in den Luft sprengen, der von Ethan Hawke gespielte US-Soldat will das verhindern, gleichzeitig muss er seinen Zwillingsbruder, einen selbst ernannten Revoluzzer, aus einer ominösen Gefangenschaft befreien.
Ferraras Film hat etwas penetrant Raunendes und spielt in einer aufdringlichen Dunkelheit, in der Hawkes Figur zu wummernden Bässen stets ihren Weg durch die Gassen und Plätze Roms findet. Das wenige Licht fällt auf das kantige zunehmend entschlossener wirkende Gesicht des Schauspielers. Natürlich darf bei diesem katholisch geprägten Regisseur die obligatorische Szene in einer Kirche nicht fehlen. Die religiöse Selbstbefragung scheint den Helden in seiner Mission noch zu bestärken: Er ist der auserwählte Soldat, der die Welt vom Bösen befreien kann.
Ferrara, dem siebzigjährigen Veteranen des amerikanischen Genrekinos, hätte die ironisch-reflexive Grundhaltung seines rund dreißig Jahre jüngeren indonesischen Kollegen Edwin gut getan.
Und was machen die Frauenrollen?
Es stellt sich die Frage, welche Frauenrollen, weiblichen Bilder und Selbstbilder diesen Männerfiguren gegenüber stehen. Die Heldinnen der dieser 74. Locarno-Ausgabe sind auf der Suche, wollen sich nicht festlegen lassen, nehmen eine ungewisse Zukunft in Kauf. Wenn Saskia Rosendahl in „Niemand bleibt bei den Kälbern“ über die Weite der Felder in Mecklenburg-Vorpommern blickt, spürt man, dass sie am Horizont keine Perspektive für sich sieht.
[Wenn Sie die wichtigsten Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Sabrina Sarabis gleichnamige Leinwandadaption von Alina Herbigs Roman lief im Nachwuchswettbewerb „Cineasti del presente“. Im Zentrum steht Christin (Saskia Rosendahl), eine Frau Mitte zwanzig, die mit Gummistiefeln und modisch knappen Outfits die Kühe füttert. Die gerne auch mal tagsüber einen Schluck aus der Flasche nimmt und ihren Freund mit einem Windkraftingenieur aus Hamburg betrügt.
Auf Schritt und Tritt begleitet die Kamera Christin, hält aber Abstand, um die Entfremdung zwischen ihr und ihrer Umgebung – dem Hof ihres Freundes, dem Dorf mit seinen zwei Straßen, den einsamen Landstraßen – festzuhalten. Diese junge Frau lässt sich von sich selbst und ihren Handlungen überraschen.
Wir lernen sie nicht im eigentlichen Sinne kennen, kommen ihr und ihren Sehnsüchten aber mit jeder Szene näher. Saskia Rosendahl verleiht dieser Christin eine physische Präsenz, die keiner Worte bedarf. Dafür wurde sie in der Nachwuchssektion von Locarno als beste Darstellerin ausgezeichnet.
Vielfältiges Programm und Auszeichnung für Deutschland
Die Bandbreite und wilde Formenvielfalt des diesjährigen Programms spiegelt sich auch in den Entscheidungen der Jury unter dem Vorsitz der US-Regisseurin Eliza Hittman. Der zweitwichtigste Preis, der Spezialpreis der Jury, ging an das dreistündige Epos „A new old play“ von QIU Jiongjiong.
In kunstvollen Kulissen wird die Geschichte eines Schauspielers erzählt, der über 50 Jahre den Clown in chinesischen Opern spielte, und damit auch die Entwicklung eines Landes vom Kaiserreich zur Republik zur kommunistischen Diktatur. Bodhisattva, der einstige Schutzheilige der Theatertruppe, wird gegen Mao eingetauscht, prunkvolle Kostüme gegen graue Uniformen.
Um zu überleben, versucht sich die Kunst den politischen Umständen anzupassen, und dennoch ihr Gesicht zu wahren. In Locarno konnte man das Gesicht der siebenten Kunst auf begeisternd unterschiedliche Weise erleben, als Fratze, als Antlitz, als realistische Maske im Genremuster. Es wandelt sich und wird doch nicht älter.