Barenboim und das West-Eastern Divan Orchestra in der Waldbühne
Der Charme einer Tradition speist sich immer auch aus der Eigenschaft, die ein Ereignis erst zum Ritual werden lässt: der regelmäßigen Wiederkehr. Wird diese zeitliche Komponente durchbrochen, wird auch die Tradition erschüttert. Ein Beigeschmack einer solchen Eruption ist am Samstagabend zu spüren, als das West-Eastern Divan Orchestra unter der Leitung von Daniel Barenboim zum jährlichen Sommerkonzert in die Waldbühne lädt.
Der Abend findet in einer insbesondere für die Kultur schwierigen Zeit statt und in dem Wissen, dass das Konzert im vergangenen Jahr aufgrund der Pandemie nicht stattfinden konnte. Deswegen ist am Samstag alles wie immer, aber doch alles anders: Die Gäste reisen in Scharen mit der S-Bahn an, allerdings versetzt.
Es gibt zwei Einlassgruppen, damit das Sicherheitspersonal den Impf- oder Testnachweis aller Anwesenden überprüfen kann und es nicht zu Verzögerungen kommt. Alle 6170 Karten sind verkauft worden, aber die Ränge nur luftig gefüllt, damit überall der Sicherheitsabstand gewahrt werden kann.
Der Aufwand lohnt sich: Die Waldbühne öffnet sich, die Trompeten blasen in die abendliche Sommerstimmung zum Beginn, das Publikum klatscht seinen Vorfreude-Applaus. Dann läuft das Orchester ein und kurz danach Maestro Barenboim, der von den Gästen wie ein alter, lang vermisster Bekannter empfangen wird.
Optimismus und ein Hauch Dramatik
Zum Auftakt wird Ludwig van Beethovens Ouvertüre zu „Die Geschöpfe des Prometheus op. 43“ gespielt – auch das eine Erinnerung an das vergangene Jahr, in dem Beethovens 250. Geburtstag anders gefeiert wurde, als geplant. Das Stück ist freudig-festlich und setzt den Ton für diesen Abend: Voller Kraft und Optimismus, mit einem Hauch Dramatik.
Der Kessel, den die Freiluftbühne und die Sitzreihen vor der Kulisse des Waldes bilden, wird von Tönen erfüllt und zunehmend sieht man glückselige Gesichter in den Rängen. Für etwa zwei Stunden wird die Waldbühne zur Insel: Andernorts toben Pandemie, Feuer, Überschwemmungen und Konflikte, hier tobt nur die Musik.
Vorgetragen von einem Orchester, dass in jedem Moment um die Spannungen unserer Zeit weiß. Und – als Gemeinschaftsprojekt vor allem israelischer und arabischer Musiker:innen und als UN-Botschafter für kulturelle Verständigung – auch um die tröstliche Wirkung der Musik.
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Auf Beethovens Prometheus-Ouvertüre folgt Johannes Brahms’ „Konzert für Violine, Violoncello und Orchester in a-moll op. 102“. Die Realität der Pandemie bleibt nicht ganz vergessen, sie blitzt immer wieder hervor: Beim Aufgang gibt es zur Begrüßung der ersten Geige einen Faustgruß für den Violinisten Michael Barenboim und den Cellisten Kian Soltani, keinen Handschlag.
Kontrolliert und leidenschaftlich
Die beiden sind ein ungleiches Paar, das trotz der Verschiedenheit harmoniert: Barenboim spielt kontrolliert und ernst, Soltani leidenschaftlich und ausladend. Beide bleiben sich treu. Ihr Zusammenspiel mit dem Orchester klingt mal leicht, mal klagend.
Es folgt eine Symphonie in d-moll von César Franck die einen spielerischen und ebenso feierlichen Abschluss des Programms bildet. Das Publikum, darunter auch der Regierende Bürgermeister Michael Müller, Innensenator Andreas Geisel und Kultursenator Klaus Lederer, jubelt voller Dankbarkeit.
Dafür gibt es dann auch noch eine Zugabe, Nimrod aus Edward Elgars „Enigma Variationen op. 36“. Die Sonne ist untergegangen, während die Tradition des Sommerkonzerts fortgeführt wurde – wenn auch unter immer noch sehr besonderen Umständen.