„Wir lassen den Regisseur erstmal weg“
Herr Pollesch, nach dem Abgang von Chris Dercon, dem Rücktritt von Klaus Dörr: Wie ist momentan die Stimmung am Haus? Mussten Sie bei Ihrer Rückkehr erst mal die Gemüter beruhigen?
POLLESCH: Ich weiß nicht aus erster Hand, wie die Stimmung war in den vier Jahren. Ich habe das nur von außen erlebt. Das aufzuarbeiten, was in der letzten Intendanz vorgefallen ist, das werden wir jedenfalls weiterführen und verstärken. Ich bin natürlich oft Mitarbeiter:innen auf der Straße begegnet, wo klar wurde, wie weit so ein kontrollierender Leitungsstil entfernt war von dem, wie sie an der Volksbühne bislang gearbeitet hatten.
Welches Leitungsmodell wollen Sie denn an der Volksbühne erproben?
POLLESCH: Wir wollen die Arbeitspraxis, die wir in mittlerweile 20 Jahren erworben haben, auf ein Haus übertragen. Anna Heesen, die schon sehr lange mit uns arbeitet, hat das „das autonome Zusammenarbeiten Mehrerer, die Autonomie nicht hermetisch denken“, genannt. Die vorherrschende künstlerische Autonomieform ist ja, dass ihre Träger:innen beratungsresistent sind. Bei uns zum Beispiel stellen Bühnenbildner:innen Räume her, für die wir ein Stück erfinden, das heißt, es gibt gar keine Möglichkeit für einen Regisseur, sich da auch noch zu verwirklichen und sich anders einzumischen, als darauf zu reagieren.
Frau Engel, Sie sind nun für die Musikschiene an der Volksbühne verantwortlich. Wie sehr haben Sie auf Autonomie gepocht, als Sie den Job angenommen haben?
ENGEL: Der Arbeitsprozess, den René beschreibt, ist etwas, was uns beide verbindet, weswegen wir uns gleich verstanden haben. Ich habe bei meiner Arbeit Programm, Kommunikation, Ort und Publikum auch schon immer als ein Ganzes verstanden. Inhaltlich hat Musik dann noch ein anderes Dispositiv. Die Künstler:innen sind in der Form autonom, dass sie in der Produktionsform unabhängiger sind und Musik ein weniger festgeschriebenes Medium hat: Es geht vom Autoradio bis auf die große Bühne. Die meisten Musiker:innen arbeiten interdisziplinär, sind oft auch bildende Künstler:innen, denken Bildsprache, Visuals und Performance mit oder probieren ganz neue Formate aus.
POLLESCH: Unsere Praxis ist an dem Haus ja nicht exotisch. Als ich 2001 an der Volksbühne gelandet bin, war das schon lange ein Theater, an dem autonom und nicht hermetisch gearbeitet wurde. Das ist ein Schauspieler:innenhaus gewesen und nicht ein Haus, an dem Schauspieler:innen als Dienstleister angesprochen wurden. Viele der Regisseure sind deshalb in der Castorf-Intendanz nicht lange geblieben, weil sie die starken Vorschläge der Spieler:innen missverstanden haben als einen Versuch, sie loszuwerden oder zu kastrieren. Dabei sind Vorschläge ja immer das Gegenteil, außer man ist hermetisch.
Wer außen Ihnen beiden gehört denn noch zur kollektiven Intendanz?
POLLESCH: Da waren erst mal die, die an der Bewerbung beteiligt waren, und dann wurde das auf das feste Ensemble ausgeweitet, von denen dann auch die Regisseur:innen vorgeschlagen wurden, mit denen wir arbeiten werden.
Sie holen berühmte Akteure aus der Castorf-Zeit zurück ans Haus. Sie nennen sie Ihre „sisters & brothers in crime“. Wer außer Kathrin Angerer und Martin Wuttke gehört mit zur Gang?
POLLESCH: Wir haben ein kleines festes Ensemble, das war immer die Tradition der Volksbühne. Ich habe früher fast nur mit Gästen gearbeitet. Christine Groß, Inga Busch und Franz Beil gehören jetzt zum Ensemble. Für ein paar ist es das erste Festengagement an einem Theater. Sophie Rois erfüllt noch ihren Vertrag am Deutschen Theater und kommt erst 2022. Fabian Hinrichs wird als Gast bei uns sein.
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Und wer entscheidet, welche Regisseur:innen an der Volksbühne arbeiten dürfen?
POLLESCH: Es ging nicht darum, Regiehandschriften einzukaufen. Unsere Idee der Zusammenarbeit basiert auf einem Vorschlag von Brecht: Ein Theater zu machen in dem sich Autor:innen und Schauspieler:innen zusammentun. Es bedeutet, den Regisseur erst einmal wegzulassen. Alle Regisseur:innen am Haus sind Autor:innen oder arbeiten im Kollektiv mit Autor:innen. Ich habe mal auf Twitter gepostet: Jeder kann sich das Ende des Theaters vorstellen, aber keiner kann sich das Ende des Regietheaters vorstellen. An nichts will man, wenn man sich so umsieht, auch weiterhin so sehr festhalten wie daran.
Aber die Regie-Genies stehen doch mittlerweile unter Beschuss. Warum soll das Regietheater abgeschafft werden?
POLLESCH: Konzepte, so avanciert sie auch sind, von den Schauspieler:innen nur ablatschen zu lassen, das ist nach wie vor eine Regie-Position, die nur die eigene Autonomie beachtet und nicht die der anderen Beteiligten. Autor:innen wie Enis Maci, und auch Partnerschaften, wo jemand schreibt und jemand Regie führt, oder auch der Filmemacher Khavn De La Cruz wurden von unseren Spieler:innen vorgeschlagen. Es gab auch Tipps, denen wir nachgegangen sind. Und dann haben wir die Regisseur:innen mit unseren Schauspieler:innen zusammengebracht. Und die haben dann entschieden, ob sie mit ihnen arbeiten wollen.
Neben der Berliner Choreografin Constanza Macras, die schon vorher am Haus gearbeitet hat, holen Sie die Wienerin Florentina Holzinger nach Berlin, eine Choreografin, die mit einem reinen Frauenensemble arbeitet. Es gibt eine starke Wiener Fraktion am Haus!
ENGEL: Ich kenne Florentina, Rana Farahani, Marianne Vlaschits oder auch Lydia Haider, die als Autorin am Haus arbeiten wird, schon länger aus dem Umfeld der „Burschenschaft Hysteria“ (ein linkes, feministisches Projekt, Anmerkung der Redaktion). Ich freue mich auch auf die Arbeit mit Eva Jantschitsch, Dalia Hassan und vielen anderen. Wir schauen uns das jetzt mal an, und wenn es schlecht läuft, übernimmt die Burschenschaft das Haus.
Frau Engel, hat die Pandemie die Planung erschwert? Womit legen Sie los?
ENGEL: Wir fangen an mit Desire Marea (eine non-binäre Künstler:in aus Südafrika, Anm. der Redaktion), ihr Debütalbum wird von der achtköpfigen Band Nezimakade gespielt. Mir war es wichtig, mit etwas zu starten, das die inhaltlichen und interdisziplinären Aspekte des zukünftigen Musikprogramms zusammenfasst und einfach mitreißt. In Zukunft werden natürlich auch viele Musiker:innen, die in Berlin leben vorkommen. Lyra Pramuk spielt im September, aber der Fokus ist global. Für Desire hat es aufwendige Sondergenehmigungen zur Einreise gebraucht, aber mir war wichtig, die Verantwortung, die wir gegenüber einer globalen queren Community haben, wahrzunehmen und diese weiter zu unterstützen, auch wenn Corona und Visa-Vorschriften das erschweren
Herr Pollesch, werden Sie selbst die Eröffnungspremiere bestreiten?
POLLESCH: Ich kann verraten, dass Leo Neumann (der Sohn des verstorbenen Bühnenbildners Bert Neumann, Anm. d. Red.) ein Bühnenbild entworfen hat. Der Titel des Stücks lautet „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“.
Manche Kritiker:innen sprechen von einer Methode Pollesch. Entspricht das Ihrem Selbstverständnis?
POLLESCH: Es gibt keine Regie-Handschrift bei mir. Dass die Abende für manche immer gleich aussehen, liegt nicht an mir. Ich finde nicht, dass sie alle gleich aussehen, auch nicht, dass es eine gemeinsame Spielweise gibt. Alle Schauspieler:innen, die ich gerade erwähnt habe, haben völlig andere Anforderungen an eine Produktion. Es gibt grundlegende gemeinsame Errungenschaften in der Praxis, aber nicht jede Probe sieht gleich aus. Die Proben mit Martin Wuttke sehen völlig anders aus als die mit Sophie Rois oder mit Kathi Angerer oder Fabian Hinrichs.
Kultursenator Lederer hatte 2019 angekündigt, das Haus solle weiblicher, jünger, diverser werden. Ist das auch Ihr Ziel?
ENGEL: Das Musikprogramm ist ein sehr queeres, intersektionales und feministisches. Es versammelt diverse Produktionszugänge, elektronische wie klassische. Und über die Musik werden solche Themen auch inhaltlich vorkommen.
POLLESCH: Wir benutzen das Haus nicht als Durchlauferhitzer für Künstler:innen. Es geht darum, wie man die Leute, die wir angesprochen haben, noch stärker zusammenbringen kann. Ein Vorbild ist Vanessa Unzalu Troya, die die Jugendgruppe P14 leitet und jetzt auch Teil der Intendanz ist. Sie weiß, wie wichtig es ist, an Leuten festzuhalten.