Gustav Mahler in Südtirol: So nah am Original wie möglich

Ob Gustav Mahler dieses dumpfe Trommeln gefallen hätte? Der Weg zu seinem Komponierhäuschen in Toblach führt an einem Wildgehege vorbei, aufgeregte Emus schlagen Alarm. Mahler, der bei der Arbeit Stille und Abgeschiedenheit suchte, hätte vor den lärmenden Vögeln wohl Reißaus genommen. Von 1908 bis 1910 verbrachte er die Sommer mit seiner Frau Alma und Tochter Anna im Pustertal. In der schlichten Holzhütte, einsame Wiesen und Berggipfel vor Augen, schrieb er seine letzten großen Werke: „Das Lied von der Erde“, die Neunte Sinfonie und die Fragment gebliebene Zehnte.

„Wenn man einmal von hier aus in Richtung Tal geschaut hat, dann berührt einen diese Musik besonders tief“, sagt der Dirigent und Cellist Philipp von Steinaecker, der mit seiner Familie in Südtirol lebt. Unter seiner Leitung haben jetzt Stipendiaten der Gustav Mahler Akademie Bozen und Mitglieder bekannter Orchester aus ganz Europa die Neunte Sinfonie auf Instrumenten aus Mahlers Zeit aufgeführt. Finanziert wurde das wagemutige Projekt von der Stiftung Busoni-Mahler Bozen und der Stiftung Euregio Kulturzentrum Toblach.

Dem Konzert ging eine akribische Spurensuche voran

Dicht an dicht sitzen die rund hundert Musiker auf der Bühne des Toblacher Kulturzentrums, einem ehemaligen Grandhotel. Was man an diesem Abend hört, lässt die Sinfonie im neuen Licht erscheinen. Der Klang war dunkler, geerdeter und zugleich wärmer als in der modernen Spielpraxis. Gleich im ersten Satz blitzten immer wieder eigenwillige Farben der Bläser auf, die sich mit den – auf Darmsaiten spielenden – Streichern zu einem stimmigen Gesamtklang vermischten.

Einige der Instrumente befanden sich früher offenbar im Besitz des Orchesters der Wiener Hofoper. In seiner Zeit als Operndirektor ließ Gustav Mahler zwischen 1897 und 1907 das Bläserinstrumentarium und das Schlagwerk neu anschaffen. Der Schriftverkehr, aufbewahrt in der Nationalbibliothek, half Steinaecker bei der Suche. „Manche Instrumente lagen jahrelang auf Dachböden von Amateurmusikern oder in Instrumentenlagern großer Sinfonieorchester“, berichtet er.

Steinaeckers Ehefrau Chiara Tonelli musiziert auf einer Holzquerflöte von Louis Lot aus dem Jahr 1875. Walter Voglmayr, Soloposaunist der Wiener Symphoniker, bekommt ein Instrument der Leipziger Firma Schlott. „Als ich das erste Mal hineinblies, war es so, als würde ich eine Wundertüte öffnen.“

Claudio Abbados Geist hat das Projekt begleitet

Die historischen Instrumente stellen die Beteiligten vor Herausforderungen. Spieltechniken mussten angepasst werden, die Streicher wurden von dem Musikwissenschaftler Clive Brown beraten, einem Spezialisten für die Aufführungspraxis der Romantik. Gemeinsam mit den Studierenden der Mahler Akademie ließen sich viele erfahrene Profis auf dieses Abenteuer ein. Der Konzertmeister Afanasy Chupin, der lange in Teodor Currentzis’ Ensemble MusicAeterna spielte, ist aus St. Petersburg in mehreren beschwerlichen Etappen über Estland und Finnland angereist. Andere Musiker kommen von der Staatskapelle Dresden, dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester, dem Orchestre de Paris und den Stockholmer Philharmonikern.

Jörg Winkler, Solobratschist im Orchester des Maggio Musicale Fiorentino, setzte sich selbst ans Steuer eines Lieferwagens, um riesige Röhrenglocken aus der Toskana nach Südtirol zu bringen. Um 1900 hatte das Stadttheater von Florenz diese Glocken für Giacomo Puccinis Oper „Tosca“ anfertigen lassen, auch heute werden sie noch verwendet.

Als die Musik schließlich im Adagissimo sachte im Nichts verklingt, halten alle im Saal den Atem an. „Uns ging es darum, Mahlers Musik heute noch einmal neu zu entdecken. Wir wollten die Neunte möglichst so aufführen, wie sie bei ihrer Wiener Uraufführung 1912, ein Jahr nach Mahlers Tod, erklang”, sagt Steinaecker. „Natürlich war uns bewusst, dass wir im 21. Jahrhundert unter ganz anderen Bedingungen arbeiten.“ Als Cellist im Lucerne Festival Orchestra hatte er die Sinfonie 2010 unter Leitung des Akademie-Gründers Claudio Abbado gespielt. Er sei sich zwar nicht sicher, ob der Maestro mit allem einverstanden gewesen wäre, schmunzelt Steinaecker. „Sein Geist hat uns jedenfalls begleitet.“

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