Deutsches Symphonie-Orchester Berlin: Sensationelle Wiederentdeckung
Es hätte der erste Opern-Welterfolg einer Komponistin werden können. Doch Ethel Smyth war kein Glück beschieden mit ihrem Cornwall-Musikdrama „Les Naufrageurs“: Bei der Uraufführung in Leipzig 1906 entstellte der Dirigent die Partitur durch Kürzungen derart, dass die Britin noch vor der zweiten Vorstellung die Noten einsammelte und abreiste. In Wien vermochte sie zwar den Hofoperndirektor Gustav Mahler für das Werk zu interessieren, doch der verlor seinen Job durch Intrigen, bevor die Premiere stattfinden konnte. In London gelang es ihr schließlich, drei Aufführungen zu organisieren, doch dann verschwand das Werk in den Archiven – bis zu diesem Sommer.
Da brachte Robin Ticciati beim Opernfestival im südenglischen Glyndebourne eine sorgfältig rekonstruierte Fassung der „Naufrageurs“ auf die Bühne, die er am Sonntag nun auch in der Philharmonie präsentiert: vor einem jubelnden Publikum, das schier geplättet ist von der unglaublichen Power dieser Musik. Dass Ticciati zwei Chefdirigenten-Jobs hat – in Glyndebourne und beim Deutschen Symphonie-Orchester –, erweist sich hier als Glücksfall. Er bringt für die konzertante Berliner Aufführung seine komplette Solistenbesetzung mit, die als eingespieltes Team die Rollen nicht nur auswendig singt, sondern auf der schmalen Spielfläche vor dem Orchester auch noch eine veritable Inszenierung improvisiert.
Am Ende geht das Liebespaar in den Tod
Die Story – ungeachtet des Schauplatzes vom polyglotten Henry Brewster tatsächlich auf Französisch verfasst – ist gut gebaut: In einem Cornwall, das denkbar weit von allen Rosamunde-Pilcher-Klischees entfernt ist, kämpfen die Bewohner eines Küstendorfs ums Überleben. Sie löschen darum regelmäßig das Licht ihres Leuchtturms, damit Schiffe an den Klippen zerschellen. Angetrieben von ihrem Prediger ermorden sie die Überlebenden und rauben die Ladung. Der junge Fischer Marc will da nicht mitmachen, er will kein „Aasgeier“ sein – und findet eine Verbündete in Thurza, der jungen Frau des Predigers. Die beiden lieben sich, wollen fliehen. Marc jedoch wird emotional von der eifersüchtigen Avis verfolgt, in die wiederum Jacquet verschossen ist.
Nachdem Marc und Thurza als jene „Verräter“ entlarvt worden sind, die mit Feuern am Strand die Schiffsbesetzungen warnen, wird das ehebrecherische Liebespaar von der Dorfgemeinschaft zum Tod durch Ertrinken verurteilt. Angekettet erwarten sie in einer Höhle am Meer die Flut. Für ihre Musik hat sich Ethel Smyth direkt vom Meer inspirieren lassen. Sie schäumt und gurgelt, sprudelt und strudelt, wie Gischt sprühen die Klangfarben. Stürmisch bewegt, wie von Urkräften angetrieben, atmosphärisch intensiv geht das so über zweieinhalb Stunden.
Herausfordernd ist diese endlose akustische Brandung für alle Beteiligten. Die Musiker:innen vom DSO ackern hart wie Ruderer im Gegenstrom, Robin Ticciati macht vom ersten Takt an mächtig Druck. Doch er weiß nach dem sommerlichen Vorstellungsmarathon in Glyndebourne eben auch ganz genau, was er fordern kann, wo die heiklen Stellen sind. Wie er auf höchstem Erregungsniveau dennoch die Klangbalance hält zwischen dem fantastischen, mit einschüchternder Klangpracht auftrumpfenden Rundfunkchor Berlin, seinen hingebungsvollen Solist:innen und den orchestralen Massen.
Und so entwickeln „Les Naufrageurs“ eine enorme Sogkraft, die das Publikum mitreißt im Strudel der Gefühle. Nach der Mode ihrer Zeit hat Ethel Smyth eine durchkomponierte Form gewählt, bei der es zwar ariose Inseln gibt, die aber so naturalistisch wie möglich erzählen möchte, ohne dass musikalische Monologe die Handlung ausbremsen. Ästhetisch steht sie in der Tradition von Bizets „Carmen“, nicht nur der heißblütigen Charaktere wegen, sondern auch im Bestreben, authentische Seelenregungen zu zeigen.
Ihr Orchestersatz aber ist dichter, dunkler grundiert als bei ihren französischen Zeitgenossen, die melodramatischen Zuspitzungen sind eher inspiriert vom italienischen Verismo. Wie bei Mascagnis „Cavalleria rusticana“ läuft im ersten Akt ein Gottesdienst im Hintergrund ab, was effektvolle Kontraste zwischen privaten Dialogen und kollektivem Choralgesang erlaubt. Lediglich in den intimen Szenen zwischen Thurza und Marc würde man sich manchmal mehr Ruhe wünschen, ein Innehalten, Durchatmen der Musik. Doch dafür stand diese kämpferische Komponistin wohl einfach zu sehr unter Strom.
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