Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (69): Silvester im nuklearen Winter
24. September 2022
„Sigmund Freud vergiftete sich/ Kurt Cobain erschoss sich/ Brian Jones ertrank/Und Gagarin haben die Außerirdischen entführt/ Ukraine sind wir! Ukraine sind wir! …“: Ich habe lange gelacht, als ich diesen Song Anfang der 2000er auf einer Compilation mit aktueller ukrainischer Musik entdeckt habe.
Er war anders als alles, was damals im postsowjetischen Raum produziert wurde, der absurde Humor von Hamerman Snyshuje Virusy (Hamerman zerstört die Viren, kurz HZV) war mit keiner anderen Band dieser Zeit vergleichbar. Es schien unmöglich, herauszufinden, woher sie kamen und was sie sonst so machten – das Internet schwieg, meine Freunde kannten sie nicht. Erst 2006 habe ich in Kiew eine CD von HZV erworben, so erfuhr ich, dass es ein Duo aus der Stadt Sumy ist.
Die Texte von HZV sind in einer ukrainisch-russischen Bastardsprache
Zehn Jahre später durfte ich Albert Tsukrenko, also 50 Prozent von HZV, persönlich kennenlernen. Mit seinem wilden Haarschopf und dem buschigen Bart hätte er locker in jedem Film einen Priester spielen können. Sein Aussehen kontrastierte scharf mit seiner Musik, die inzwischen in der ganzen Ukraine bekannt war. Die Band hat nie aufgehört, weitere Alben zu produzieren, fast könnte man glauben, es sei ihr Ziel, sich zu trashigen Disco-Beats und nostalgischen Synthie-Sounds über jedes Thema lustig zu machen und so viele Menschen wie möglich mit ihren Songs und Konzerten zu beleidigen.
In Interviews behaupten Albert und sein Mitstreiter Wowa, zu jedem Auftritt neue Kostüme zu entwickeln. Die Ergebnisse kann man in ihren Youtube-Videos bewundern. Mal tragen sie enge rosa Shorts und dazu rosa Mausoleen auf den Köpfen, mal nur Tangas und Hidschab oder aus Bierdosen gebastelte Unterhosen, mal gar nichts. Die Songtexte von HZV sind auf Surschyk geschrieben, einer Bastardsprache, die Elemente des Ukrainischen mit dem Russischen verbindet. In ihren Liedern singen sie vom Traum, das Leben von hinten zu nehmen und Boxer wie Klitschko zu werden, davon, dass das Zunehmen geil ist, außerdem haben sie mehrere Lieder über Selenskyjs Vorgänger im Repertoire.
Als ich 2017 in Charkiw Freunde und Familie besuchte, war die Band auch in der Stadt, zum ersten Mal. Wir trafen uns auf einen Kaffee – abseits der Bühne wirkten die beiden von HZV ganz entspannt und nachdrücklich höflich, vor allem gegenüber dem jungen lokalen Veranstalter, der auch dabei war. Als er fragte, was sie für das Konzert benötigten, meinte Albert, sie hätten gerne, wenn es ginge, zwei Kondome, zwei Eier und einen Liter Olivenöl. Der Auftritt am gleichen Abend war legendär, das Charkiwer Publikum wirkte schockiert, aber gleichzeitig sehr glücklich.
Das Berliner Debüt von HZV beim Motanka-Festival letzten Freitag habe ich leider verpasst, da ich auf Tour in Bayern war. Aber wir beschlossen, am Samstag zusammen zu frühstücken. Wowa kam nicht mit, dafür Alberts Familie. Seine Frau und die beiden Töchter haben im März die Ukraine verlassen und wohnen zurzeit in Dresden. Der Berliner Auftritt der Band ist für sie eine Gelegenheit, sich kurz wiederzusehen. Alberts Mädels haben zum ersten Mal ein Konzert von Papa in voller Länge miterlebt und haben jetzt einige Fragen, erzählt er lächelnd.
Während wir Erwachsenen uns in der Küche austauschen, sind die Töchter in meinem Musikzimmer. Die neunjährige Feofania experimentiert mit der E-Gitarre, die vier Jahre ältere Apollinaria zeigt ihr auf der akustischen zwei Akkorde, um den Volkssong „Oy u luzi chervona kalyna“ spielen zu können. Am Ende performen wir ihn zusammen und dann müssen die Tsukrenkos los, da sie noch in den Zoo möchten.
„Weißt du“, sagt Albert, „als wir am Freitagabend auf der Bühne standen und ,Isotop‘ sangen – und die letzte Strophe geht ja so: ,Egal, wohin man schaut/ Sind unsere Töchter und Söhne da,/ Sie feiern Silvester/ Mitten im nuklearen Winter’ –, da dachte ich: Wow! Was meinten wir eigentlich damit, als wir das Lied 2017 geschrieben haben? Hätten wir uns damals so was auch nur vorstellen können?“
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