Löst Havertz das Sturmproblem im DFB-Team?: Ein Zehner für die Neun

Gerade mal zehn Kilometer Luftlinie liegen zwischen dem eigentlichen Arbeitsplatz von Kai Havertz, dem Stadion des FC Chelsea im Londoner Stadtteil Fulham, und dem Wembley-Stadion, in dem er an diesem Montag mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft auf England treffen wird. Ein Katzensprung also – und doch ein weiter Weg.

Das liegt nicht nur daran, dass Havertz für das letzte Gruppenspiel in der Nations League (20.45 Uhr, live bei RTL) mit seinen Kollegen aus Leipzig eingeflogen kommt. Es liegt auch daran, dass die Wege für den 23-Jährigen in der Nationalmannschaft schon immer etwas gewundener waren.

Mehr als vier Jahre sind vergangen, seitdem Havertz erstmals für das DFB-Team zum Einsatz gekommen ist. 29 Einsätze seitdem sind eine respektable Zahl, aber gemessen an seinem früh erkennbaren Talent auch keine, die alles in den Schatten stellt.

Kai Havertz ist immerhin der – mit Abstand – teuerste deutsche Fußballer der Geschichte. 80 Millionen Euro hat Chelsea vor zwei Jahren für ihn an Bayer Leverkusen überwiesen.

Dazu hat Havertz seine Mannschaft 2021 zum Titel in der Champions League geschossen und auch das Finale der Klub-WM mit seinem Tor entschieden. „Ich habe das Gefühl, in England einen großen Entwicklungssprung gemacht zu haben“, hat er gerade in einem Interview mit dem „Kicker“ gesagt.

In der Nationalmannschaft aber wartet Kai Havertz immer noch darauf, eine seinem Wert und Talent angemessene Rolle einzunehmen. Unumstrittener Stammspieler war er nicht unter Joachim Löw, obwohl der seine Qualitäten immer wieder lobend erwähnt hat. Unumstrittener Stammspieler ist er bisher auch unter Löws Nachfolger Hansi Flick noch nicht.

Rein ins Getümmel. Kai Havertz findet sich auch im engen Strafraum zurecht.
Rein ins Getümmel. Kai Havertz findet sich auch im engen Strafraum zurecht.
© IMAGO/ActionPictures

Am vergangenen Freitag, bei der 0:1-Niederlage gegen Ungarn in Leipzig, musste Havertz wieder einmal lange auf seinen Einsatz warten. Erst 20 Minuten vor dem Ende kam er für Timo Werner aufs Feld und übernahm dessen Position als einziger Stürmer im deutschen Team.

In Flicks Amtszeit ist Havertz nun in elf von vierzehn Länderspielen zum Einsatz gekommen. Nur fünf Spieler kommen auf mehr Spiele. Doch gleich elf Spieler haben unter Flick länger auf dem Feld gestanden als Havertz.

Zumindest spricht einiges dafür, dass er diese Bilanz an diesem Montag deutlich wird aufhübschen können. Alles andere als ein Startelfeinsatz im Duell mit den Engländern wäre eine große Überraschung. Und auch perspektivisch, nämlich mit Blick auf die WM in knapp zwei Monaten, sind Havertz’ Aussichten inzwischen deutlich verheißungsvoller.

Mit seinem Spiel ist Havertz schwer zu fassen

Das liegt nicht zuletzt an Timo Werner, mit dem er bis vor wenigen Wochen noch gemeinsam beim FC Chelsea gespielt hat.

Auch am Freitag gegen Ungarn in Leipzig, an seinem neuen alten Arbeitsplatz, wirkte Werner wie ein Fremder im deutschen Spiel. Als er nach 70 Minuten ausgewechselt wurde, hatte er gerade mal 14 Ballkontakte gehabt. Havertz kam in 20 Minuten immerhin auf 15.

Unabhängig davon war der Londoner deutlich präsenter gewesen als der Ex-Londoner, stärker eingebunden ins Spiel seiner Mannschaft. Havertz war eben nicht wie Werner ausschließlich damit beschäftigt, die Tiefe zu suchen, die es gegen eine extrem defensive Mannschaft wie Ungarn gar nicht gibt.

Das liegt natürlich auch daran, dass Havertz kein geborener Stürmer ist, sondern im Mittelfeld aufgewachsen ist. Er sieht sich selbst nicht als typischen Neuner, obwohl er dort inzwischen auch im Verein regelmäßig spielt. „Ich bin schwer zu fassen und versuche immer, mich auch in andere Räume zu begeben“, sagt Havertz. „Meine Position ist mir nicht so wichtig. Ob ich auf der Zehn, auf der Neun oder auf der rechten Seite spiele, ich will der Mannschaft helfen.“

Das trifft sich gut, denn bei der Besetzung der Sturmposition ist der Bundestrainer zur Improvisation gezwungen. Das war schon bei Joachim Löw so und verfolgt nun auch Hansi Flick, dem für das Spiel in Wembley eine mögliche Option abhandengekommen ist. Der frühere englische Junioren-Nationalspieler Lukas Nmecha, der noch am ehesten dem Prototyp eines echten Mittelstürmers entspricht, steht Flick wegen Kniebeschwerden nicht zur Verfügung.

Auch Kai Havertz ist nicht der Neuner, den sich alle schon seit Jahren für die Nationalmannschaft wünschen, der Brecher in vorderster Linie, Enkel von Uwe Seeler und Gerd Müller. Rudi Völler, in seinem früheren Leben ebenfalls erfolgreicher Stürmer und später dann sein Vorgesetzter in Leverkusen, hat Havertz einmal „als Mischung aus Mesut Özil und Michael Ballack“ bezeichnet.

Geschmeidig am Ball und entschlossen im Abschluss: Die Fähigkeiten der beiden Mittelfeldspieler Özil und Ballack sind auch im gegnerischen Strafraum durchaus hilfreich. „Kai kannst du vorne überall hinstellen“, hat Thomas Müller einmal über Havertz gesagt. Natürlich auch auf die Neun.

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