Absurdes Finale einer absurden Saison
Der Sport bedient sich oft einer martialischen Rhetorik. Die wahrscheinlich beste Analogie fand Niels Giffey jedoch auf dem Feld der Wissenschaft. „Es ist ein bisschen Survival of the fittest“, sagte Alba Berlins Kapitän vor dem ersten Endspiel gegen Bayern München am Mittwoch (20.30 Uhr, Magentasport und Sport1).
Diese evolutionstheoretische Hypothese wird heute fast ausschließlich mit dem in der Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten“ des britischen Naturforschers Charles Darwin in Verbindung gebracht. Geprägt hat sie jedoch sein Kollege Herbert Spencer. Die geläufigste deutsche Übersetzung „Überleben des Stärkeren“ ist zwar sehr griffig, inhaltlich aber ziemlich daneben. Denn es geht nicht um Stärke, sondern um Anpassungsfähigkeit – und damit sind wir wieder bei der diesjährigen Finalserie in der BBL.
Am Ende einer absurden Saison duellieren sich Alba und Bayern in einem noch absurderen Modus, den es so noch nie gegeben hat im deutschen Basketball. Die maximal fünf Spiele finden innerhalb von sieben Tagen statt, beginnend mit zwei Aufeinandertreffen in der Berliner Arena am Ostbahnhof am Mittwoch und am Donnerstag. Zwischen der Schlusssirene des ersten Spiels und dem Tip-off des zweiten liegen nur etwa 22 Stunden.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräteherunterladen können]
Am Freitag reisen beide Mannschaften nach München, wo am Samstag die dritte Partie und – sollte bis dahin kein Team drei Siege geholt haben – am Sonntag das vierte Spiel stattfindet. Steht es danach 2:2, geht es zurück nach Berlin zum entscheidenden Finale am Dienstag kommender Woche. Einige deutsche Profis wie Giffey, Maodo Lo oder Münchens Paul Zipser fahren vermutlich anschließend zur Nationalmannschaft, die über ein Qualifikationsturnier den Sprung zu Olympia schaffen will. „Der Spielplan fürs Finale ist ein Desaster für die Spieler“, schrieb der 90-fache Nationalspieler Bastian Doreth bei Twitter.
So deutlich wie der Bayreuther Profi, der in den Play-offs als TV-Experte arbeitet und dessen Wort im deutschen Basketball Gewicht hat, sagt das bei Alba und Bayern niemand. Schließlich geht der Spielplan nicht auf geheime Verhandlungen von Anzug tragenden Funktionären der BBL zurück. Die Liga, das sind in erster Linie die Vereine, und gegen ihren Willen wäre der Modus nicht möglich gewesen. Natürlich hätte man die Play-offs aus sportlicher Sicht verkürzen müssen. Mit „Best-of-three“-Serien wären längere Ruhepause möglich gewesen, doch jedes Spiel bringt letztlich TV-Geld – und das ist bei vielen Vereinen pandemiebedingt knapp. Die Spieler werden also am Ende einer langen Saison weiter ausgezehrt. Gesund ist das sicherlich nicht.
Dass mit den beiden deutschen Euroleague-Teilnehmern die Mannschaften im Finale stehen, die ohnehin mit Abstand die größte Belastung hinter sich haben, spricht für den darwinistischen Erklärungsansatz Giffeys. Die Berliner bestreiten am Mittwoch ihr 80. Spiel seit Anfang Oktober, die Münchner stehen schon bei 86. Natürlich ist das nicht spurlos an den Basketballern vorübergegangen, sie haben aber gezwungenermaßen auch Strategien entwickelt, wie sie erfolgreich mit den vielen Spielen sowie der wenigen Regenerationszeit umgehen.
Die Finaltermine im Überblick
- Spiel eins: Mittwoch, 20.30 Uhr, in Berlin
- Spiel zwei: Donnerstag, 20.30 Uhr, in Berlin
- Spiel drei: Samstag, 15 Uhr, in München
- Spiel vier (wenn nötig): Sonntag, 15 Uhr, in München
- Spiel fünf (wenn nötig): Dienstag, 19 Uhr, in Berlin
Doch selbst die beste Anpassung hilft nur begrenzt. Im Finale sollten sich eigentlich die besten Spieler der besten Mannschaften in der bestmöglichen Form messen. Das ist in dieser Saison aber nicht mal ansatzweise der Fall. Bei Alba fehlten zuletzt mit Luke Sikma, Johannes Thiemann, Louis Olinde und Jonas Mattisseck vier Spieler verletzt, München muss auf Nick Weiler-Babb verzichten und bangt noch um die angeschlagenen Zan Mark Sisko, Paul Zipser sowie Leon Radosevic. „Die Endspiele werden etwas Neues für jeden sein, denn durch das Format musst du erst mal durchkommen: Back-to-back, und zwar richtig, mit zwei Spielen in 48 Stunden, ohne Pause“, sagte Bayerns Trainer Andrea Trinchieri. „Ich werde diese Spiele an der Grenze coachen, denn ich will meine Spieler schützen.“
Man sollte nicht unbedingt mit basketballerischen Leckerbissen rechnen. Alba gegen Bayern hat durch die in den vergangenen Jahren entstandene Rivalität ohnehin schon eine Hitzigkeit, die den Spielfluss wie beim Pokalfinale vor drei Wochen oft überlagert. Die Berliner stehen im vierten Jahr unter Trainer Aito Garcia Reneses im achten von acht nationalen Endspielen, haben allerdings alle vier verloren, in denen der Gegner München hieß. In der vergangenen Saison gewann Alba den Pokal gegen Oldenburg und die Meisterschaft gegen Ludwigsburg.
Zur besonderen Brisanz des Duells der beiden besten deutschen Mannschaften kommt nun eine enorme Erschöpfung hinzu, die wohl auch die mehrtägige Pause zwischen Halbfinale und Endspiel nicht nachhaltig lindern können wird. „Ich gehe davon aus, dass das Finale von der Qualität her nicht so viel zeigen wird“, sagte Münchens ehemaliger Alba-Profi Nihad Djedovic der dpa.
[Mehr guten Sport aus lokaler Sicht finden Sie – wie auch Politik und Kultur – in unseren Leute-Newslettern aus den zwölf Berliner Bezirken. Hier kostenlos zu bestellen: leute.tagesspiegel.de]
Auch Giffey hat schon klare spielerische Veränderungen wahrgenommen. Durch die Müdigkeit werde alles langsamer, kämpferischer. Daher sei die Bereitschaft entscheidend, „auch hässliche Plays zu machen, sich auf den Boden zu werfen“. Albas Kapitän bezog sich bei dieser Beschreibung vor allem auf das anstrengende Halbfinale gegen Ulm, es ist aber schwer vorstellbar, dass es gegen München wesentlich anders aussehen wird – wobei dieser Stil sicherlich eher den Bayern zugute kommen würde. Im ersten Spiel werden beide Mannschaften vermutlich noch die meiste Energie haben, danach wird es neben einer Kraft- auch eine Willensfrage.
Dass nach aktuellen Stand bei allen Finalspielen Zuschauer auf den Tribünen sein werden, ist dabei eine willkommene Unterstützung. Am Mittwoch dürfen in Berlin 1450 Fans in die Arena, am Donnerstag sogar 2000. In München werden zum ersten Mal seit März 2020 wieder 1000 Zuschauer in der Rudi-Sedlmayer-Halle sein. So wird zumindest die Kulisse – für Pandemieverhältnisse – finalwürdig sein.