Neue Dokumente aufgetaucht: Ist der Welfenschatz doch NS-Raubkunst?

Eigentlich schien die Sache mit dem Welfenschatz 2023 für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz glücklich gelaufen, die seit 2008 ihre Juristen in Atem gehalten hatte. Der Anspruch auf Restitution, den die Nachfahren von vier ursprünglich in Frankfurt ansässigen jüdischen Kunsthändlern geltend gemacht hatten, schien endgültig abgewiesen.

Die Hälfte des bedeutenden mittelalterlichen Kirchenschatzes, der sich bis zum Verkauf an ein Händlerkonsortium 1929 für 7,5 Millionen Reichsmark durch Ernst August als letztem regierenden Herzog von Braunschweig-Lüneburg im Braunschweiger Dom befand, sollte damit bei den Staatlichen Museen in Berlin verbleiben.

Genauer: im Kunstgewerbemuseum am Kulturforum, wo die Kreuze, Tabernakel, Monstranzen, das prachtvolle Kuppelreliquiar mit seinen Gold- und Silberschmiedearbeiten sowie den Elfenbeinschnitzereien in Vitrinen zu bewundern sind. Die andere Hälfte des 82 Stücke umfassenden Konvoluts war bereits zuvor an US-amerikanische Museen und Sammler veräußert worden.

Bereits 2014 hatte die Beratende Kommission erklärt, dass hier kein Fall von NS-Raubkunst vorliege. Das von den Händler-Nachfahren daraufhin angerufene Oberste Gericht in Washington gab 2021 bekannt, nicht zuständig zu sein, ebenso wenig wie die nächste untere Instanz, an welche die Klage weitergereicht worden war. Erleichterung machte sich bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz breit.

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Das Gefühl dürfte wenig später geschwunden sein, nachdem neue Papiere im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden eher zufällig aufgetaucht waren. Die Recherche galt eigentlich der Suche nach weiteren Belegen für die vier bereits bekannten Kunsthändler des Konsortiums, Julius F. Goldschmidt, Isaak Rosenbaum, Saemy Rosenberg und Zacharias M. Hackenbroch, deren Nachfahren nicht aufgeben wollten.

Nach Einschätzung der Beratenden Kommission geschah der Verkauf 1935 ohne Repressalien durch die Nationalsozialisten, der damalige Preis in Höhe von 4,5 Millionen Reichsmark sei angemessen gewesen und wurde ausgezahlt. Der Wert der im Kunstgewerbemuseum aufbewahrten 44 Stücke beläuft sich heute laut einer Schätzung von Sotheby’s aus dem Jahr 2014 auf 300 Millionen Dollar.

Das prachtvolle Kuppelreliquiar stammt vom Ende des 12. Jahrhunderts.

© picture alliance/dpa/Stephanie Pilick

Durch die Entdeckung im Wiesbadener Staatsarchiv aber gibt es nun den Namen eines weiteren Akteurs beim damaligen Deal: das Ehepaar Louis und Alice Koch. Die beiden Inhaber der Frankfurter Juwelierhandlung Robert Koch waren mit 25 Prozent am Verkauf des Welfenschatzes beteiligt.

Darüber hinaus belegen die Dokumente, dass der an sie ausgezahlte Betrag von 1.155.000 Reichsmark genau der Summe entspricht, die von Alice Koch als Reichsfluchtsteuer wenig später abgepresst wurde, damit sie als Jüdin das Land verlassen konnte. Dies dürfte als Beweis gelten, dass der Verkauf unter Zwang geschah. Das Geld stand also nicht zur freien Verfügung, sodass die Transaktion als NS-verfolgungsbedingter Vermögensentzug gelten muss.

Für die Staatlichen Museen könnte es also heikel werden. Bereits 2022 trat der in der Schweiz lebende Urenkel von Alice Koch an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz heran, ohne dass man sich einig wurde. Auch sein zweiter Anlauf stockte: die erneute Eingabe bei der Beratenden Kommission im April 2024.

1.155.000

Millionen Reichsmark musste Alice Koch als Reichsfluchtsteuer zahlen.

Seit neun Monaten untersucht die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, ob der Anspruchsteller überhaupt dazu berechtigt sei. „Die Prüfung dieser Voraussetzungen dauert noch an“, lautete die Antwort auf Nachfrage des „Spiegels“. Das erstaunt, denn die Prüfung der Zulässigkeit liegt letztlich bei der Beratenden Kommission.

Die Begründung der Preußenstiftung klingt nach Hinhaltetaktik, zumal vom Bund finanzierte Ausstellungshäuser wie die Staatlichen Museen von der Kulturstaatsministerin dazu angehalten sind, „unverzüglich“ einer Anrufung der Beratenden Kommission zuzustimmen. Veränderte Modalitäten zugunsten einer schnelleren Klärung und die künftige Gründung von Schiedsgerichten gehörten zu den von Claudia Roth besonders stark vorangetriebenen Projekten.

Die Zustimmung der Länder hatte sie sich gerade noch rechtzeitig für eine neue Gesetzgebung vor der Wahl eingeholt. Eine neunmonatige Wartezeit für die jüdischen Nachfahren, ob ihre Eingabe vom entsprechenden Museum für zulässig gehalten wird, wird kaum in Roths Sinne sein.

Parzinger möchte das Thema ungern noch einmal angehen

Dabei könnte eine Rolle spielen, dass Stiftungspräsident Hermann Parzinger das Thema, das ihn seit seinem Amtsantritt 2008 verfolgt, vor seinem Abschied Ende Mai wohl ungern noch einmal anpacken möchte.

Dem RBB beeilte er sich zwar zu sagen: „Jetzt mit der Reichsfluchtsteuer, mit diesem Hinweis muss man dann mit den Erben und Anspruchstellern noch mal genau sprechen und ins Gespräch eintreten.“ Aber über dieses Stadium scheint die Auseinandersetzung längst hinaus. Ansonsten wäre die Anrufung der Beratenden Kommission gar nicht nötig gewesen.

Büstenreliquiar des heiligen Cosmas aus dem Welfenschatz.

© picture alliance / Alina Novopashina/dpa

Das Problem landet ohnehin bei Parzingers Nachfolgerin Marion Ackermann. Schon jetzt klopfen laut RBB weitere Anwälte von einstigen Welfenschatz-Besitzern bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz an. Mit einer so hohen Summe wie das Ehepaar Koch eingestiegen war, um den klammen Herzog von Braunschweig-Lüneburg auszuzahlen, werden sie jedoch kaum beteiligt sein.

Eine Kompensation für den Urenkel von Alice Koch durch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, sollte die Beratende Kommission oder künftig ein Schiedsgericht für eine Restitution plädieren, dürfte schwindelnde Höhe erreichen.

Der Welfenschatz ist heute nationales Kulturgut

Doch für solche Spekulationen ist es zu früh. Der Welfenschatz verbleibt mit größter Sicherheit im Berliner Kunstgewerbemuseum. Seit 2014 steht er auf der Liste nationaler Kulturgüter und darf nicht ausgeführt werden. Einen Großsammler innerhalb der deutschen Grenzen, der den immensen Preis zu zahlen bereit wäre, wird es ohnehin kaum geben.

Eines allerdings müsste sich sehr viel schneller ändern: die neben den Vitrinen hängende Schrifttafel. Sie verweist darauf, dass die Verkäufer „den vereinbarten Kaufpreis zur freien Verfügung“ erhielten.