Sogar die Friedhofe sind von Raketen zerstört
17. August 2022
Mit meiner Trauer bin ich am liebsten allein, und so entscheide ich, schon am frühen Morgen zum Friedhof zu fahren. Vor drei Jahren ist mein Vater gestorben. Als meine Familie vor 27 Jahren aus der Ukraine nach Deutschland emigrierte, war Potsdam unser erster Halt, meine Schwester und ich zogen irgendwann aus, unsere Eltern sind jedoch dort geblieben.
Auf dem Weg nach Potsdam in der S-Bahn denke ich an das gestrige Telefonat mit meinem Freund Nikolay Karabinovych – in der Zeit, wo so viele Ukrainer das Land verlassen, ist sein Vater einer der wenigen, die zurückgekehrt sind. Dass seine Heimatstadt Odessa im Moment ein nicht ganz ungefährlicher Ort ist, scheint ihn nicht zu stören. Er hat da Wichtiges zu tun, meint er, er müsse sich um die Familiengräber kümmern.
Leider habe ich Nikolays Vater noch nicht kennengelernt, aber vor ein paar Jahren habe ich mich mit der Geschichte seiner Familie auseinandergesetzt. Nikolay ist ein Multimedia-Künstler, 2018 hat er mich eingeladen, einen Song für sein Projekt „Die Stimme der dünnen Stille“ zu schreiben. Es sollte von seinem Urgroßvater handeln, der in Odessa lebte und 1949 zum Opfer Stalins anti-griechischer Kampagne wurde.
Wie viele ukrainische Griechen wurde auch er nach Kasachstan deportiert, wo er in einer Tabakfabrik arbeiten musste und innerhalb weniger Jahre starb. Nikolay zeigte mir seine letzten Briefe, die seine Witwe in Odessa aufbewahrt hat – verschickt aus Tschilik, einem Ort im Gebiet Almaty in Kasachstan, voll unterschwelliger Hoffnungslosigkeit. Sie dienten mir als Inspiration für den Liedtext, musikalisch orientierte ich mich an Rembetiko, dem griechischen Blues des frühen 20. Jahrhunderts. Nikolay flog nach Tschilik und hat dort in einer verschneiten Steppe einen Lautsprecher installiert, aus dem mein Song erklang.
Mein Songtext ziert seinen Grabstein
Gestern schickte mir Nikolay Bilder von einem Grabstein, den sein Vater auf dem Friedhof in Odessa errichten ließ – mein Song wird zitiert. Es ist ein sonderbares Gefühl, von mir geschriebene Zeilen in solchem Kontext zu sehen … Ende April wurde ein Teil dieses Friedhofs von russischen Raketen stark beschädigt.
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Es ist nicht mal neun Uhr, aber man spürt es schon jetzt: Der Tag wird heiß. Ich schreibe meiner Mutter, dass ich sie später besuchen komme. Um diese Stunde ist der Friedhof ganz leer – bis ich den einsamen älteren Herrn mit einer Hacke neben Vaters Grab entdecke. Er sieht mich auch – und freut sich offensichtlich über Gesellschaft. Im Gegensatz zu mir ist er in einer gesprächigen Stimmung.
„Alexander Gursky … Dein Vater?“, fragt er, ich nicke. Er fährt fort, ihm fällt gleich viel ein, was er fragen und erzählen möchte. Ich habe den Eindruck, er hätte auf mich hier gewartet. „Olaf! Olaf heiße ich. Deine Eltern, sie wohnten doch in der Dortustraße, nicht wahr? Wir waren Nachbarn! Bist Du auch Jude? Sieht man Dir nicht an, Du hast weder diese Locken noch den schwarzen Hut. Bist Du religiös? Gehst Du in die jüdische Kirche?”
Zu jeder Antwort von mir scheint er noch weitere Fragen zu haben. Er lobt mein Deutsch und als ich sage, dass ich, obwohl ich in der Ukraine mit anderen Sprachen aufwuchs, schon eine Weile in Deutschland lebe, will er über die Ukraine reden. „Aber sag mal, dieser Selenskyj, der hat doch auch Schuld am Krieg, oder?“ Das Grab meines Vaters ist der letzte Ort, an dem ich politische Diskussionen führen möchte, aber ich bleibe noch gute 20 Minuten stehen und erkläre Olaf die Lage, wie ich sie empfinde.
Unterbrochen werde ich durch eine SMS, meine Mutter schickt mir einen Screenshot der WhatsApp-Nachricht von ihrer Schulfreundin aus Charkiw. Auf dem Foto kann ich hinter den Rauchschwaden nichts erkennen, entnehme aber aus der Beschriftung, dass in der Nacht das Gebäude des Kohlechemischen Instituts, in dem mein Vater jahrelang gearbeitet hat, zerbombt wurde. Ich versuche mir vorzustellen, wie er wohl darauf reagiert hätte. Aber er hat uns bereits 2019 verlassen und weder die Pandemie noch die Kriegseskalation miterlebt.