Rammstein und ihre Fans: Wir gegen die
Es ist seltsam: Seit Ende Mai, dem Beginn der Rammstein-Europa-Tour in Vilnius, wird Sänger Till Lindemannvon mehreren Frauen – teils anonym – vorgeworfen, er lasse systematisch junge Fans für Sex rekrutieren. Und trotzdem geht die Tour unverdrossen weiter, am Mittwoch und Donnerstag in Wien. Als wären die Vorwürfe und negativen Erfahrungen der Frauen alle aus der Luft gegriffen.
Dass Rammstein die Tour fortsetzen, hat viele Gründe, unter anderem ökonomische. Auch eine mit den Wochen gewachsene Wagenburgmentalität mag eine Rolle spielen. Zumal Lindemann alle Vorwürfe abstreitet und die Unschuldsvermutung gilt. Lindemann spielt inzwischen schon lyrisch damit, wenn er wie auf den Konzerten in Berlin Zeilen ändert und statt „alle haben Angst vorm schwarzen Mann“ nun „alle haben Angst vor Lindemann“ singt oder „Die Vögel singen nicht mehr“ zu „Die Sänger vögeln nicht mehr“ umdichtet.
Damit scheint er bei seinem Publikum begeisterte, offene Ohren zu finden. Denn viel irritierender an dem unverdrossenen Fortgang dieser Tour ist, dass auf keinem der Rammstein-Konzerte sich die Reihen nur ansatzweise gelichtet haben. Jedes Mal finden sich 70.000 oder 80.000 oder 90.000 Menschen ein, um die Show zu sehen und die Band zu feiern. Natürlich gibt es, wie gesagt, die Unschuldsvermutung. Natürlich muss immer das Wörtchen „mutmaßlich“ fallen. Trotzdem scheint sich kaum ein Rammstein-Fan zu stören an dem, was seit Wochen mit der Band so ungut in Verbindung gebracht wird. Was wiederum nicht nur mit Geld zu tun hat, eben dass die Karten so teuer gewesen sind, oder fehlender moralischer Verantwortung.
Nein, auch bei den Fans scheint sich zunehmend eine Wagenburgmentalität zu entwickeln: eine Wir-gegen-die-Stimmung, ein Wir gegen „die Medien“, die im Zweifelsfall sowieso immer lügen. Das Problem dabei ist, dass Rammstein keine Wald-und-Wiesen-Band mit einer kleinen Fanschar sind, sondern eine der größten, berühmtesten der Republik. Die Rammstein-Fangemeinde repräsentiert einen nicht kleinen Teil der Gesellschaft, für den die MeToo-Bewegung keine größere Bedeutung hat. Der Besuch eines dieser Konzerte ist ein Statement. Nur bewegt sich das kaum noch in den Grenzen von Pop, in den Grenzen einer popimmanenten Provokation. Das macht das Ganze so furchterregend.