Musiker Nile Rodgers: „Einstellung, Religion oder Herkunft spielten im Club keine Rolle“

Mister Rodgers, 2012 tourten Sie mit Chic im Rahmen eines kleinen Soul- und Funk-Festivals durch Deutschland – als Eröffnungsact. Ein halbes Jahr später gelang Ihnen ein Comeback mit Daft Punk und dem Hit „Get Lucky“. Hat sich Ihr Leben dadurch noch mal gedreht?
Das ist jetzt genau zehn Jahre her. Es kam mir damals vor, als würde eine neue Ära für mich anbrechen. Vom Gefühl her macht es für mich allerdings keinen Unterschied, ob ich nun vor 1000 Leuten oder 100.000 Leuten auftrete und spiele. Aber wenn du so eine Injektion verabreicht bekommst wie ich durch Daft Punk, und ich war damals 60, ist das natürlich aufregend. Welchem Künstler passiert so was in dem Alter? Es war aber nicht nur wichtig für mich, weil es eine großartige und spaßige Erfahrung war mit so modernen Typen im Studio zu arbeiten, es schloss sich damit auch ein Kreis.

Inwiefern?
In der Geschichte der Grammys ist es nur zwei Mal vorgekommen, dass eine Dance-Platte als „Album des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Daft Punks „Random Access Memories“ waren die zweiten, denen das gelang. „Saturday Night Fever“, der Soundtrack der Bee Gees, ist das andere Album. Es kam 1977 raus, als ich gerade mit Chic anfing und an unserem Debüt arbeitete. Und heute bin ich immer noch da.

Und es hört nicht auf: Für die von Ihnen produzierte Single „Cuff It“ von Beyoncé gab es dieses Jahr wieder einen Grammy.
Ja, ein neuer Song auf meiner Setliste für die anstehenden Konzerte! Dabei war ich mit Beyoncé nicht mal im Studio. Der Grund, warum mein Leben gerade so aufregend ist, ist die Technologie, die es mir ermöglicht, auch mit räumlichem Abstand von den Künstlern Platten mit ihnen zu machen. Durch meine Position bei den Abbey Road Studios, ich bin dort leitender Kreativberater, habe ich Zugriff auf das neueste technische Gerät – es ist fantastisch. Mindestens drei oder vier Mal die Woche nehme ich mit Leuten auf, die in anderen Ländern sind – und kann trotzdem auf Tour sein. Mein Leben ist gerade richtig toll.

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Noch besser als im Produzieren sind Sie vermutlich im Zusammenbringen von Menschen – und das nicht nur bei Ihren Liveshows: Zu Ihren Platten tanzten in den Siebzigern Schwarze wie Weiße, Queers wie Heteros.
Total richtig. Das ist der Traum eines jeden Künstlers, wenn er Musik mit solcher Wirkung macht, die es schafft, unterschiedliche Menschen für die Dauer eines Popsongs zu vereinen. Natürlich geht es auch um spirituelle Selbstverwirklichung.

Aber Musik kreieren wir letztendlich für die Öffentlichkeit, die Leute, die Massen. Als Gradmesser, ob eine Arbeit von Bedeutung ist, ist die Zahl derer, die sie konsumieren, schon entscheidend – auch wenn ich es hasse, das zu sagen. Aber sie ist der einzige Weg, uns die Bedeutung sichtbar zu machen. Warum wird Andrew Lloyd Webber als großartigster Theaterkomponist aller Zeiten angesehen? Wegen dieser enormen Menge an Menschen, die „Das Phantom der Oper“, „Cats“ oder „Jesus Christ Superstar“ gesehen haben und deren Leben es bereichert, vielleicht sogar verändert hat.

Welcher Ihrer Songs hat die Menschen wohl am meisten bereichert?
Wenn ich auf mein Herz höre, würde ich sagen, entweder „Everybody Dance“ oder „Good Times“. „Everybody Dance“ ist der allererste Song, den ich jemals für Chic geschrieben habe – zwei Wochen nachdem ich Donna Summer, die Village People und Eddie Kendricks in einer Disco gehört hatte. Ich war damals ein Jazz-Komponist. Mein Lehrer und Mentor war immer sauer, wenn ich sagte, dass ich Popmusik nicht ausstehen könnte.

Er erwiderte dann: „Jedem Song, der zum großen Pophit wurde, liegt eine großartige Komposition zugrunde. Sonst würde er nicht zu den Seelen von Millionen Fremden sprechen.“ Genau das war es ja, was ich wollte. Mir wurde klar, dass ich nicht länger beweisen musste, wie clever ich bin, ich musste die Menschen sich gut fühlen lassen. Ich habe Sinfonien geschrieben und dirigierte ganze Orchester, aber glücklicher hat mich gemacht, dass ich „Come To Butt-Head“ für den Film „Beavis und Butt-Head“ geschrieben habe.

War das Berechnung, mit „I’m Coming Out“, das Sie 1980 für Diana Ross schrieben, eine LGBTQ-Befreiungs-Hymne zu kreieren?
Jeder Song, den ich jemals geschrieben habe, egal, wie simple die Idee davon klingen mag, basiert auf der Realität. An dem Abend bevor ich den Titel schrieb, besuchte ich einen Nachtclub in New York und war nicht darauf vorbereitet, gleich mehreren Transvestiten zu begegnen, die wie Diana Ross hergerichtet waren. Ich war nur da, um eine gute Zeit zu haben.

Ich war mit meinem Chic-Kollegen Bernard Edwards gerade dabei, zum ersten Mal mit einem der größten Stars der Welt zu arbeiten: Diana Ross! Ich war völlig aus dem Häuschen und dachte nur: Wow! Diese Idee wäre mir nie in den Kopf gekommen, wenn es nicht diese Begegnung im echten Leben gegeben hätte. Warum nicht einen Song darüber machen? Man muss nur genau hinsehen.

Madonna und ich lieben uns wirklich, seit ich Anfang der Achtziger ihr „Like A Virgin“-Album produziert habe.

Nile Rodgers

War die Disco-Ära so großartig, wie behauptet wird, oder ist das nur ein Mythos?
Nein, es war noch viel besser! Es war eine Zeit in Amerika, die wir vermutlich nie wieder erleben werden, also ich ganz sicher nicht. Die vielen Menschen in den Clubs zu sehen, die nicht viel gemeinsam hatten, aber durch die Musik gleich wurden, weil sie sich darauf einigen konnten, dass sie cool ist – mehr war in dem Moment nicht wichtig.

Die politische Einstellung, die Religion oder Herkunft spielten keine Rolle. Wenn die Zeile „Good times, these are the good times“ auf der Tanzfläche zu hören war, war alles gut. Es entstanden enge Bindungen. Ich bin heute noch mit einigen Leuten aus dieser besonderen Zeit befreundet. Amerika ist heutzutage politisch so gespalten… Ich habe das Gefühl, dass solche Freundschaften, die über die politische Einstellung hinwegsehen können, rar geworden sind.

Sie betreiben in typischer Siebziger-Manier eine Rollerskating-Disco, in der Sie schon mit Madonna gefeiert haben.
Oh, wir hatten so viel Spaß im letzten Jahr. Madonna und ich lieben uns wirklich, seit ich Anfang der Achtziger ihr „Like A Virgin“-Album produziert habe. Ich hatte sie viele Jahre nicht mehr gesehen, wenn überhaupt nur auf Preisverleihungen. Und jedes Mal, wenn wir uns begegneten, konnten Anwesende unsere Liebe füreinander auf unseren Gesichtern sehen. In der „Disco-Oasis“ hatten wir die Gelegenheit, endlich wieder eine ganze Partynacht zusammen zu verbringen. Es war gleich wieder so, als hätten wir uns jeden Tag gesehen. Mein Appartement in New York liegt nur ein paar Blocks von Madonnas entfernt. Vielleicht sehen wir uns jetzt wieder öfter.

Die Zusammenarbeit mit David hat mein Leben verändert. Ironischerweise bat mich David Bowie seinerzeit darum, sein Leben zu verändern. 

Nile Rodgers

Es ist 40 Jahre her, dass Sie „Let‘s Dance“ mit David Bowie aufgenommen haben. Haben Sie noch lebendige Erinnerungen daran?
Ja, natürlich. Die Zusammenarbeit mit David hat mein Leben verändert. Ironischerweise bat mich David Bowie seinerzeit darum, sein Leben zu verändern. Wir hatten beide unsere Drogenphasen hinter uns und tauschten uns darüber aus. Mir ist egal, was er danach darüber sagte. Denn David beklagte ja, dass sich sein Publikum dadurch verändert hatte. Aber dann sage ich: „Ja, aber du hast nach genau dieser Platte verlangt, David!“ Er sagte damals zu mir: „Nile, ich will, dass du das machst, was du am besten kannst.“

Ich war ein Fan von Bowie und fragte: „Was soll das genau sein?“ Denn für mich war klar, dass ich Jazz am besten kann. Und David meinte: „Nile, du machst Hitplatten. Ich will, dass du mir ein Hit-Album machst. Nicht nur eine Single – ich will, dass jeder Song catchy ist.“ David ging in mein Schlafzimmer, spielte „Let’s Dance“, das zu dem Zeitpunkt noch klang wie ein Folk-Song. Und ich meinte: „So wird das nichts mit dem Hit-Album. Dürfte ich dafür mal ein Arrangement machen?“ Ich wusste, dass auch er Jazz liebte. So klang es dann auch. Er fand es cool. Und ich veränderte den Song in die Version, die wir heute kennen.

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Hat das Leben es gut mit Ihnen gemeint?
Es hat mir schon einige Steine in den Weg gelegt: Da war eine unstete Kindheit, Drogenprobleme in der Disco-Szene der Siebziger, zwei Krebserkrankungen, von denen ich glücklicherweise geheilt bin. Aber diese Höhen und Tiefen haben mein Leben auch interessant gemacht und mich angehalten, immer weiterzumachen mit dem, was ich liebe. Heute bin ich 70 Jahre alt, und ich bin ein Chanel-Model! Dabei habe ich mein Gesicht noch nicht mal der plastischen Chirurgie zur Verfügung gestellt. Ich habe zwar Falten, aber bin immer noch präsentabel.

Ist Ihnen das wichtig?
Oh, ja. Ich sehe die Welt immer noch genauso, wie ich sie mit 17 sah. Wenn ich heute einen Klamottenladen betrete, fühle ich mich so wie früher. Ich habe Mode immer geliebt. Mode bedeutet für mich, einen künstlerischen Ausdruck auf die Straße zu bringen. Ich kann manchmal in der merkwürdigsten Umgebung sein, in der kaum Schwarze sind, und ich bekomme für meine Klamotten die ganze Zeit Komplimente. Sehen Sie die Klamotten hinter mir auf der Kleiderstange? Die hätte ich schon als 17-Jähriger getragen – wenn ich sie mir damals hätte leisten können.