Arnold Stadlers Roman „Irgendwo. Aber am Meer“: Bittersüßer Rückspiegelschmerz

Arnold Stadler ist ständig unterwegs, und so handeln seine Bücher immer wieder vom Reisen und der Unmöglichkeit, die immer auch geistig verorteten Reiseziele jemals zu erreichen. Wenn Stadler etwa vom Kilimandscharo schreibt, geht es nicht nur um den höchsten Berg Afrikas, um touristische Träume, die koloniale Vergangenheit, sondern auch um die deutsche Gegenwart, die oberschwäbische Heimat des Autors, die sich bis zur Unkenntlichkeit verändert.

So ist das auch im neuen Roman mit dem programmatischen Sehnsuchtstitel „Irgendwo. Aber am Meer“. Der 1954 geborene Büchner-Preisträger erzählt darin von einem Schriftsteller der zu einer Veranstaltung auf Schloss Sayn eingeladen wird, und selbst hier, in der Westerwälder Provinz, geht es um die Weltpolitik: „Ich hatte den Verdacht, dass sie auf Schloss Sayn eigentlich Greta Thunberg hatten hören wollen und mir übelnahmen, dass ich nicht Greta Thunberg war, sondern ein weißer Alter, der für alles verantwortlich gemacht werden konnte.“

Der Ich-Erzähler hatte fälschlicherweise angenommen, wenn schon nicht allzu lang aus seinen Büchern lesen, doch zumindest über sie sprechen zu können, etwa aus „Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo“. Ja, bei Arnold Stadler sind die Übergänge von einem Werk zum nächsten fließend, von biographischer Erkundung und deren Fiktionalisierung ohnehin.

Fließende Grenzen zwischen Fiktion und Autobiografie

Auf jeden Fall kommt es auf Schloss Sayn zum Eklat, als das Publikumsgespräch beginnt und der Autor nach seiner Meinung zur Klimakatastrophe und zur Flüchtlingskrise befragt wird. Doch der Schriftsteller möchte kein Politiker sein, verweist auf sein literarisches Werk.

Er redet sich um Kopf und Kragen, wie man es lustigerweise auch von Arnold Stadler kennt, der im Gespräch gerne mal abschweift, diese rhetorische Kunst nahezu perfektioniert hat. Das Publikum aber quittiert die sowohl persönlichen als auch theoretischen, jedenfalls immer abwägenden Gedankengänge mit dem resoluten Urteil: „Altmänner-Geschwätz“.

Der Schriftsteller ist nur froh, schon bald wieder nach Hause zu fahren, wobei ihm zunehmend unklar wird, wo dieses Daheim überhaupt liegen könnte. Auch seine Heimatregion sei „verwechselbar“ geworden, sehe aus wie alle anderen zersiedelten Gegenden in Deutschland.

Auf der Rückreise ins Oberschwäbische bleibt dem Literat also wieder nur die Literatur, er befragt sich und seine ästhetischen Ansprüche, die alles andere als unethisch sind, die aber aus der Zeit gefallen zu sein scheinen: „War Schreiben eine Bluterkrankheit? Fehlte das Gerinnungselement des Vergessens? War Schreiben nicht das Übersetzen von Schmerz in Sprache? War der Schmerz meine Quelle? Ja, nun sah ich etwas, das einem Rückspiegelschmerz glich. Und einem Rückspiegelglück. Ich sah schon wieder Ithaka am Meer liegen.“

So markiert die gescheiterte Autorenveranstaltung den Aufbruch zu einer neuen Reise, und zwar auf die griechische Insel Lefkada, von der aus man Ithaka, die Heimat von Odysseus sehen kann. Das ist natürlich kein Zufall, dass sich der strauchelnde Schriftsteller mit dem Vater aller Irrwege verbunden fühlt. Dort, im Hotel mit Ithaka-Blick und Infinity-Pool, widmet sich der Erzähler dann wieder seinen Grundthemen, die von allen Spielarten der Sehnsucht handeln, vom Fernweh bis zum Heimweh, vor allem aber von der Liebe zum Meer.

Schönste Sehnsuchtsliteratur

Wer sich einmal auf die im alemannischen Sprachraum verwurzelte Prosa eingelassen hat, wird nicht mehr von ihr loskommen, wird dem Autor auch dieses Mal mit Johann Peter Hebel nach Tuttlingen, der „Welthauptstadt von Kannitverstan“ folgen, ins Griechenland Homers und wieder zurück zu Heideggers Holzwegen und den Schmutzfinken und Angsthasen eines Jean Paul, Wortkreationen, die auch Stadler liebt und weiterentwickelt.

Nach Passagen im hohen Ton folgen kurios-witzige Absätze, etwa wenn sich der Erzähler wundert, nur noch sogenannte „altersgerechte“ Werbemails mit Angeboten zu Treppenliften und Sterbegeld-Versicherungen zu erhalten. Es wäre aber falsch, Arnold Stadler nur als geistreichen Flaneur im eigenen Literaturkosmos zu lesen.

Dieser Autor schaltet auch in den Angriffsmodus, wenn es um die frühere und gegenwärtige Kriegsbegeisterung geht, um Waffenhersteller, die ausgerechnet in Stadlers Heimatgefilden Maschinenpistolen und andere Mordwerkzeuge produzieren. „Irgendwo. Aber am Meer“ ist eben, anders als ein Westerwälder Publikum vielleicht denken mag, keine Altherrenliteratur. Stadlers Prosa hat über die Jahre weder an Aktualität noch an Kraft verloren, sie gehört immer noch zum Schönsten, was zeitgenössische Sehnsuchtsliteratur in deutscher Sprache zu bieten hat.

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