Flora Kliem strebt nach Perfektion
Da ist dieser Moment der völligen Stille. Wenn der Bogen am Anschlag ist, der Fokus nur der Zielscheibe gilt. Im Kopf von Flora Kliem läuft dann Musik, manchmal summt sie im Geiste eine Melodie nach. Alles nur, um diese Ruhe zu überwinden. Denn wenn es zu still ist, dann kommt sie auf andere Gedanken – und verliert den Fokus. Gegen das kämpft die 23-Jährige an. Auch bei den Finals in Berlin, bei denen sie im Olympiapark ab Samstag ihren deutschen Meistertitel beim Para-Bogenschießen verteidigen will. Aber auch sonst im Leben behält Kliem ihre Ziele fest im Blick.
Dem Sport war die gebürtige Berlinerin immer schon sehr verbunden. Als Mädchen ist Kliem viel geschwommen, hin und wieder trat sie sogar als Zirkusartistin auf. Im Alter von 15 Jahren musste sie einen schweren Schicksalsschlag erfahren. Nach einem Unfall erlitt sie ein Polytrauma an Rücken und Beinen. Seitdem sitzt sie im Rollstuhl. Über den Unfall will sie in der Öffentlichkeit nicht sprechen. „Da ist dann bei mir immer ein gewisser Punkt erreicht, da ziehe ich meine persönliche Grenze“, sagt sie.
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Kliem ist ein Paradebeispiel dafür, wie man positiv mit schwersten Rückschlägen umgehen kann. Und sie steht stellvertretend dafür, wie sehr der Sport dabei helfen kann. Kurz nach dem Unfall, erzählt sie, sei nicht mal klar gewesen, ob sie jemals wieder würde sitzen können. Inzwischen kann sie nicht nur sitzen, sondern dabei auch einen schweren Bogen in der Hand halten und bei einer Zugstärke von 17 Kilogramm Pfeile auf eine über 70 Meter entfernte Scheibe abfeuern. „Das Bogenschießen hat zu meiner Stabilität im Rücken beigetragen“, sagt sie. Aber größer als der körperliche Nutzen des Sports ist für sie der mentale.
Die junge Frau, das erzählt ihr Trainer Helmut Theuer, sei sehr ehrgeizig. „Das Schöne am Bogenschießen ist dieses Streben nach Perfektion“, sagt Flora Kliem. „Und zwar nicht nur einmal den perfekten Schuss abgeben, sondern immer und immer wieder.“ Kliem scheint außerordentlich strebsam zu sein. 2017 trainierte sie zum ersten Mal das Bogenschießen. Und nun, keine vier Jahre später, hat sie bereits zwei deutsche Meistertitel gewonnen. Sie sei eine Ausnahmeerscheinung, sagt Helmut Theuer. „Dass ein Mensch nach solch einem Schicksalsschlag zu solchen Leistungen, sportlich wie menschlich, fähig ist, habe ich nicht für möglich gehalten.“
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Theuer ist durch Kliem zum ersten Mal mit dem Behindertensport in Berührung gekommen. Für gewöhnlich trainiert er die Anfänger im Jugendbereich des ASC Göttingen. Doch vor vier Jahren tauchte dort plötzlich Kliem auf, und Theuer merkte ganz schnell, dass es sich bei ihr um eine besondere Athletin handelt. Wie schnell sie dazulerne und Dinge umsetzen könne, sei unglaublich. „Was sie in drei Jahren erreicht hat, schaffen die meisten nicht in zehn oder sogar zwanzig Jahren.“
Man merkt schon, Theuer kommt aus dem Schwärmen nicht heraus. Die Zusammenarbeit mit Flora Kliem ist ganz offensichtlich ein Glücksfall für ihn. Die Frage ist nun, wohin das gemeinsame Training die beiden noch führt. In vier Jahren zwei gewonnene deutsche Meistertitel lassen darauf schließen, dass die Paralympics nicht mehr fern sind.
Doch in diesem Sommer in Tokio wird Kliem noch nicht dabei sein. „Ich bin noch nicht so weit“, sagt sie. „Als die letzten Paralympics stattgefunden haben, hatte ich noch nicht mal meine ersten Trainingsstunden mit dem Bogen.“ Ihr großes Ziel seien die Paralympics 2024. Und ihr nächstes sind die Finals im Berliner Olympiapark.
Für den Parasport im Allgemeinen und für Kliem im Einzelnen sind die Wettbewerbe in Berlin die große Chance, sich endlich mal wieder in einem Wettbewerb zu zeigen. Im März 2020 bestritt Kliem ihren letzten Wettkampf. Danach war es pandemiebedingt für sie kaum möglich, ihrem großen Hobby nachzugehen.
Kliem lernte in der Pandemie für ihr Abitur. „Ich bin fast nur zu Hause geblieben und habe gelernt, weil ich mein Abi nicht durch eine Corona-Erkrankung gefährden wollte“, erzählt sie. Damit sie trotzdem ab und zu trainieren konnte, stellte sie eine Scheibe in ihrer Wohnung auf. Aus sechs Metern traf sie oft ins Goldene. Und das Abitur? „Bestanden mit 1,1.“ Fast perfekt also.