Wilfried van Moer führte Belgien ins Finale der EM 1980
Am 18. Juni 1980 schießt Wilfried van Moer kein Tor. Er bereitet auch keines vor und wird nach 48 Minuten ausgewechselt. Das Spiel ist nicht besonders ansehnlich, es endet 0:0. Trotzdem ist es die wichtigste Partie in Van Moers Karriere, es ist sein Signature-Spiel.
Belgien trifft damals im Stadio Olimpico von Rom auf EM-Gastgeber Italien. Es geht um den Finaleinzug. Den Belgiern genügt ein Unentschieden, Italien muss gewinnen. Van Moer kämpft buchstäblich bis zum Umfallen. Er spielt aggressiv, aber nicht unfair. Er passt den Ball aus der bekannten Tiefe des Raumes, er grätscht die gegnerischen Angriffe ab. Er ist Regisseur und Dauerläufer, Günter Netzer und Herbert Wimmer in einer Person.
Van Moer ist damals 35 Jahre alt, und eigentlich ist seine große Zeit vorbei. Wenige Monate zuvor hat er noch bei einem kleinen Klub in Beringen gekickt, wo er seine Karriere als Halbprofi ausklingen ließ, abends stand er bis zwei Uhr am Zapfhahn seiner eigenen Kneipe „Wembley“. Er hat seit fünf Jahren kein Länderspiel mehr bestritten. Dann aber, kurz vor Ende der EM-Qualifikation, klingelt sein Telefon. Nationaltrainer Guy Thys fleht: „Wilfried, wir brauchen dich!“
Das Spiel gegen Italien, dieses dreckige 0:0, ist das Happy End einer der besten Comeback-Storys des Fußballs. Und es ist Van Moers persönliche Rache.
Mit 16 Jahren debütierte er in der ersten Mannschaft
Wilfried van Moer kommt kurz vor Kriegsende in Beveren bei Antwerpen auf die Welt. Seine Mutter ist bereits 45 Jahre alt und hat eine Tochter bei einem deutschen Angriff verloren. Es sind harte Zeiten, aber immerhin rollt der Fußball in der ersten Liga schon 1945/46 wieder.
Der junge Van Moer schließt sich dem lokalen KSK Beveren an, schon mit 16 Jahren debütiert er in der ersten Mannschaft, mit der er in die dritte Liga aufsteigt. In 121 Spielen schießt er 56 Tore. Nicht schlecht für einen Mittelfeldmann. Das denken auch die Scouts des Topklubs Royal Antwerpen, die ihn in die große Stadt locken. Van Moer, damals 20 Jahre alt, sagt zu, weil er in Antwerpen als Elektriker arbeiten kann.
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Ende der Sechziger ist Wilfried van Moer einer der besten Spieler Belgiens. Der 1. FC Köln möchte ihn verpflichten, Van Moer könnte in der Domstadt sogar nebenher an der Sporthochschule studieren. Aber Royal lehnt das Gesuch ab, Van Moer werde noch gebraucht. Ein Jahr später wechselt der Spieler doch, denn Royal steigt überraschend ab.
Für eine damalige Rekordsumme von umgerechnet 150 000 Euro geht Van Moer zu Pokalsieger Standard Lüttich. Dort gewinnt er drei Meisterschaften in Folge und den Goldenen Schuh, die Auszeichnung für den besten Spieler Belgiens. Er ist dabei, als Standard das Star-Ensemble von Real Madrid aus dem Landesmeister-Cup wirft, 3:2 gewinnt seine Elf vor 80 000 Zuschauern im Bernabeu.
1970 fliegt er mit Belgien zur WM nach Mexiko, die Roten Teufel scheiden zwar in der Vorrunde aus, aber Van Moer schießt zwei Tore.
„Sie brauchen einen Typen wie Wilfried van Moer”
Dann, am 13. Mai 1972, scheint alles vorbei. Van Moer, gerade mal 27 Jahre alt, spielt mit Belgien im EM-Viertelfinale gegen Italien. 0:0 endet das Hinspiel, 2:1 gewinnen die Belgier im Rückspiel. Ein ganzes Land feiert ein Fußballteam. Nur einer kann sich nicht so recht freuen: Wilfried van Moer. Er hat im Rückspiel zwar das wichtige Tor zum 1:0 erzielt, danach aber tritt ihn Inter-Verteidiger Mario Bertini brutal vom Platz.
Die Diagnose: mehrfacher Beinbruch. Van Moer wird nie wieder so gut spielen wie zuvor. Er wechselt nach Beringen, eine 40 000-Einwohner-Gemeinde unweit der holländischen Grenze, und macht sich Gedanken, wie es weitergehen soll.
Ende der Siebziger geht es dem belgischen Fußball nicht gut. 1976 scheitert die Nationalelf im EM-Viertelfinale krachend gegen die Niederlande (0:5, 1:2), und für die WM 1978 kann sie sich nicht mal qualifizieren. Auch die Europameisterschaft 1980 droht ohne die Belgier stattzufinden, aus den ersten vier Qualifikationsspielen holt die Mannschaft vier Unentschieden.
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Das fünfte Spiel gewinnt das Team mit Ach und Krach 2:1 gegen Norwegen. Aber weil die Skandinavier damals echte Fußballzwerge sind und Belgien weiterhin inspirationslos spielt, platzt dem bekannten Sportreporter Rik De Saedeleer der Kragen. „Ihr Team hat keinen Spielgestalter und keinen Kopf. Sie brauchen einen Typen wie Wilfried van Moer, wenn Sie noch nach Italien möchten!“, ruft er Belgiens Trainer Guy Thys zu. Und der nimmt tatsächlich den Telefonhörer in die Hand und wählt die Nummer der „Wembley“-Kneipe.
Wilfried van Moer ist skeptisch. Hat er überhaupt noch die Kraft für ein EM-Spiel? „Bei weiteren schlechten Spielen hätten die Leute gesagt, es liege an mir, weil ich alt bin“, sagt er heute. „Ich war wirklich nicht sicher, ob es clever war, zurückzukehren.“ Aber schon im ersten Spiel zahlen sich der Einsatz des Spielers und der Mut des Trainers aus.
Belgien gewinnt 2:0 gegen Portugal, Van Moer schießt ein Tor. Auch die nächsten Spiele gewinnt Belgien, und weil Österreich nur Unentschieden gegen Portugal spielt, fahren die Belgier zur EM. Es ist bis heute das einzige Turnier, bei dem Belgien das Finale erreicht.
Die Geburt einer neuen Goldenen Generation
„Die anderen Mannschaften hatten die Stars, Schuster, Keegan, Altobelli, aber wir hatten ein Team“, sagt Torhüter Jean-Marie Pfaff, der damals noch halbtags in einer Bank jobbt. Das 1:1 im Auftaktspiel gegen England sei besonders wichtig gewesen. „Alle dachten, wir verlieren 0:5 oder 0:6. Aber dann schossen wir ein Tor, wir merkten: Hier ist was drin.“
Im entscheidenden Gruppenspiel ist Italien, Weltmeister in spe, trotzdem haushoher Favorit. Auch deshalb zeigt sich Trainer Enzo Bearzot nach dem 0:0 als schlechter Verlierer: „Diese Belgier haben keinen Fußball gespielt, sie haben es nicht verdient, um den EM-Titel mitzuspielen.“ Wilfried van Moer muss sich auf die Zunge beißen, Trainer Guy Thys kontert mühelos: „Wir haben die Italiener mit italienischen Mitteln besiegt: Zeit schinden, Spielrhythmus zerstören, mit Händen und Füßen kloppen und auch das Spucken nicht vergessen.“
Das Finale gewinnen die Deutschen 2:1, weil Hort Hrubesch – „Bulldozer“ nennt ihn die belgische Presse – zweimal trifft. Belgien aber, so die einhellige Meinung, ist der Europameister der Herzen. Van Moer wird in die Mannschaft des Turniers gewählt, später holt er sogar den vierten Platz bei der Wahl zum Ballon d’Or.
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„Wir haben gezeigt, dass wir tollen Fußball spielen können“, sagt Trainer Thys. Und so geht es weiter. Bei der WM 1982 schlägt Belgien den amtierenden Weltmeister Argentinien, 1986 erreicht eine junge Mannschaft um Ceulemans, Scifo und Pfaff das Halbfinale. Van Moer ist da nicht mehr dabei.
Trotzdem fällt sein Name auch in Mexiko oft, wenn es darum geht, Belgiens guten Fußball zu erklären. Denn Van Moers Rückkehr 1979 gilt als Geburt einer neuen Goldenen Generation.
Wäre im Sommer 1980 sogar mehr drin gewesen? Hrubesch machte das zweite Tor ja erst zwei Minuten vor Schluss. „Wir hatten gehofft, dass die Deutschen müde werden“, sagt Van Moer, „aber sie machten einfach weiter wie ein D-Zug.“ Dafür seien sie selbst irgendwann müde geworden.
Aber vermutlich lag es daran, dass er und seine Mitspieler nach dem Sieg gegen Italien bis 4.30 Uhr in der Nacht gefeiert hatten. „Mit einer großen Flasche amerikanischem Whisky.“