„Guillermo del Toros Pinocchio“ im Kino: Die Holzpuppe und der Duce

Ein Pinienzapfen ist das Letzte, das dem Vater von seinem Sohn bleibt. Der Junge hat ihn in der Umgebung in den Bergen aufgelesen, es ist das Jahr 1916. Holzschnitzer Geppetto und sein Sohn Carlo leben in einem kleinen Dorf, zusammen arbeiten sie in der Kirche des Ortes an einem Kruzifix, als der Krieg auch sie erreicht. Eine Fliegerbombe trifft die Kirche und tötet den Sohn. Der Vater zerbricht an dem Verlust. Die Zeit vergeht, die Wandgemälde der Kirche weichen zum Erntedankfest nahtlos den faschistischen Parolen; aber Geppetto kann den Verlust des Sohnes nicht verwinden. In seinem Schmerz beginnt er, in Erinnerung an Carlo eine Puppe aus Pinienholz zu schnitzen.

Die sprechende Holzpuppe weckt düstere Begehrlichkeiten

Schon 2008 kündigte der mexikanische Regisseur Guillermo del Toro erstmals an, Carlo Collodis Kinderbuchklassiker zu seinem Projekt machen zu wollen. „Guillermo del Toros Pinocchio“ entstand nun mit dem Animationsregisseur Mark Gustafson, im Auftrag von Netflix. Zusammen haben sie die Geschichte um die Holzpuppe, die von einem Waldgeist zum Leben erweckt wird, entscheidend verändert. „Guillermo del Toros Pinocchio“ beginnt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als der Faschismus in Italien erstarkte.

Der schwer erziehbare Pinocchio (Italienisch für Pinienauge) erregt die Aufmerksamkeit der Dorfautoritäten, des Priesters und des faschistischen Bürgermeisters: Er soll diszipliniert werden. Der Theaterbesitzer Graf Volpe wiederum wittert in der sprechenden Puppe eine Attraktion für seine Show, die bessere Zeiten erlebt hat. Und während Geppetto seinem Ziehsohn verzweifelt durch Italien hinterherreist, wird Pinocchio zum Star einer Puppenrevue, die Mussolini verherrlicht.

Gegenüber anderen jüngeren Adaptionen – Robert Zemeckis Disney-Film, Matteo Garrones Interpretation von 2019 – wirkt del Toros „Pinocchio“ deutlich düsterer. Faschismus und Krieges, aber auch die Wesen, die die Suche Geppettos nach Pinocchio immer wieder verzögern, zeugen von del Toros Vorliebe für das Makabre. In dieser Hinsicht ist der Film auch eine Rückkehr zum Tonfall der Vorlage. Collodis Buch kommt aus heutiger Sicht überraschend brutal daher.

In der Konfrontation zwischen Bergwelt und Faschismus erinnert der Film auch an „Pans Labyrinth“, del Toros abgründiges Märchen über die Zeit des Franquismus. Der Priester des Dorfes ist unterwürfiger Opportunist, der faschistische Bürgermeister fröhnt einem fanatischen Maskulinismus und Militarismus, der selbst vor dem eigenen Sohn Kerzendocht nicht Halt macht. Allerdings driftet die Faschismusparabel auch unangenehm ins Klischee ab, vor allem in den Szenen mit Mussolini. Bei del Toro ist er ein kleiner, dicker Buffo-Faschisten und führt damit eine Traditionslinie fort, die bis zu Chaplins „Der große Diktator“ zurückreicht.

Komplexer ist das Italienbild in der Figur Volpes. Der Graf gehört zu den Figuren, die der Film neu erfindet – eine Verschmelzung des bärbeißigen Theaterbesitzers Mangiafuoco und des verschlagenen Fuchses aus der Vorlage. Das Puppentheater hat im Süden Italiens, vor allem in Sizilien, eine lange Tradition. In der Figur des gierigen Puppentheaterdirektors überzeichnet der Film den schon bei Collodi angedeuteten, ressentimentgeladenen Konflikt zwischen reichem Nord und armem Süden.

(In den Berliner Kinos b-ware!Ladenkino, Babylon Kreuzberg, Hackesche Höfe, Intimes, Wolf (alle OmU). Ab 9. Dezember auf Netflix)

Bemerkenswert sind besonders die Animationen von del Toro und seinem Ko-Regisseur Gustafson, eine Mischung aus Stop-Motion- und 3D-Technik. Am deutlichsten zeigt sich das an Pinocchio selbst. Der Körper der Puppe besitzt eine schöne Holztextur, die Bewegungen sind mechanisch, Augen und Lider hingegen in 3D animiert. Eine gelungene Calling Card für das bisher weniger bekannte Studio ShadowMachine. Während es bei vielen großen Filmen heutzutage üblich ist, die Animationen in Länder mit Billiglöhnen auszulagern, klingt „Pinocchio“, den den Credits nach zu urteilen, überraschend amerikanisch.

Kleineren Schwächen zum Trotz ist „Guillermo del Toros Pinocchio“ im wahrsten Wortsinnn fantastisch. Vor dem Hintergrund von Faschismus und Krieg entfesselt der Film ein Animationsspektakel um eine hoffnungslos naive Holzpuppe, die die Welt entdeckt. Der Film entschlackt die Handlung von Collodis Pädagogik und jeder Disney-Süße und gibt der Vorlage so nicht nur ihre Abgründigkeit zurück, sondern kostet sie auch visuell aus. Fabian Tietke

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