Gewaltmuster im russischen Krieg gegen die Ukraine : „Man lähmt die Bevölkerung mit Angst“
Anfang 2022 unterhielten sich meine Tochter und ich in der Küche. Mit ihren 16 Jahren interessierte sich Solomiia sehr für internationale Politik und Geschichte. Mit Sorge beobachtete sie die Berichterstattung zu der drohenden russischen Invasion in der Ukraine. „Warum tun sie das?“, fragte Solomiia, „Die Russen haben es doch schon so oft versucht. Es hat nie funktioniert.“
In der Tat: Nicht einmal Stalins umfassender Repressionsapparat war in der Lage, den Wunsch nach Souveränität in der Ukraine auszulöschen. Weder die brutale Unterwerfung der ukrainischen Volksrepublik durch die russischen Bolschewiki in den 1920er Jahren noch der Holodomor, eine künstlich herbeigeführte, politisch gewollte Hungersnot, der vier Millionen Menschen zum Opfer fielen, die Massenhinrichtungen ukrainischer Intellektueller in den 1930er Jahren oder die Deportationen ganzer ethnischer und sozialer Gruppen in den 1940er Jahren – nichts konnte die Idee einer souveränen Ukraine zerstören.
Es war mir nicht möglich, auf die Fragen meiner Tochter angemessen zu antworten. Der russische Angriff wirkte hoffnungslos anachronistisch und sinnlos. Doch er folgte einem erkennbaren Muster: den Widerstand mit möglichst brutaler, lang anhaltender, allumfassender und durchdringender Gewalt zu brechen.
Zunächst nimmt man prominente Persönlichkeiten – Politiker, Schriftsteller, Menschenrechtsaktivisten – ins Visier. Nach und nach lähmt man die gesamte Gesellschaft mit Angst. Zu diesem Zweck wird der totale Terror gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt.
Frauen standen vor unvorstellbaren Entscheidungen
Als sich die Russen Kiew näherten, blieben viele Kulturschaffende in der Stadt, um sich um ihre Einrichtungen zu kümmern. Immer wieder hat die Ukraine im Laufe des 20. Jahrhunderts kulturelles Erbe verloren: historische Gebäude, Museumssammlungen, Archive und Kulturschaffende selbst.
Eine weitere Zerstörungswelle schien unerträglich. Die Mehrheit der im Kulturbetrieb Beschäftigten waren und sind Frauen mit Kindern. Sie standen vor unvorstellbaren Entscheidungen und mussten verschiedene Verantwortungen abwägen.
Im Morgengrauen des Tages der russischen Invasion erhielt ich den Anruf einer Freundin und Kollegin. Sie war dabei, ihre kleinen Kinder von Butscha, einem Vorort von Kiew, in die Westukraine zu bringen. Ziel war es, sie so nah wie möglich an die polnische Grenze zu bringen. Sie hatte in ihrem Auto Platz für unsere Tochter.
Meine Freundin wusste, dass ich in Kiew bleiben würde, um mich um die Einrichtung zu kümmern, für die ich verantwortlich war. So reiste unsere 16-jährige Solomiia Tausende von Kilometern – mit Freunden, Verwandten und manchmal auch mit Fremden. Das nächste Mal sahen wir uns neun Monate später.
Historisches Wissen war für die Risikokalkulation wichtig
In diesen ersten Wochen nach der Invasion musste jeder von uns in Kiew ständig die Risiken kalkulieren. Dazu behielten wir nicht nur das Vorrücken der russischen Truppen und ihr Verhalten in den besetzten Gebieten im Blick, sondern versuchten auch, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.
Wenn die Russen heute mit denselben Methoden und Ansätzen kämpfen würden, dann war alles, was wir über das Schicksal der ukrainischen Kultur im 20. Jahrhundert wussten, durchaus eine relevante Datenbasis für diese Risikokalkulation.
Wir erinnerten uns an die Ermordung von Hunderten ukrainischer Kulturschaffender in Karelien im Jahr 1937 und an die nach Russland verschleppten Archive der ukrainischen Volksrepublik. Wir sprachen über die Mosaike der gesprengten St.-Michaels-Kathedrale mit der goldenen Kuppel in Kiew und an das Ende der 20er Jahre zerschlagene ukrainische Avantgardetheater Berezil von Charkiw.
All diese Ereignisse waren ab dem 24. Februar 2022 nicht mehr nur historisch. Sie wurden zur Datengrundlage für die tägliche Entscheidungsfindung. Nach Rückzug der Russen aus ukrainischen Städten konnten wir uns vor Ort ein Bild machen. Wir sahen immer Zerstörung und Plünderung von Museen und die Ermordung von Kulturschaffenden. Die Gewalt der Vergangenheit war tatsächlich Russlands Strategie für die Zukunft.
Diese Erkenntnis ist schockierend. Gleichzeitig hat sie die Ukrainer und Ukrainerinnen in ihrer Hartnäckigkeit und Widerstandsfähigkeit bestärkt. Denn die Menschen in diesem Land haben keine andere Wahl, als sich mit allen Mitteln zu wehren. Die Wiederholung dieses Gewaltmusters – von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Generation zu Generation – ermutigt uns, auch uns in Führungspositionen von Kulturinstitutionen, zu kämpfen. Denn wir wollen nun wirklich die letzte Generation sein, die sich in dieser Form verteidigen muss.
Meine Tochter soll nicht die gleichen schwierigen Fragen beantworten müssen, die sie mir am Vorabend einer weiteren russischen Invasion gestellt hat.
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