Jedes Objekt eine Welt: Zehn Geschichten über Raubkunst und woher sie kam

„Ich bin wegen eines Holzstabs nach Berlin gekommen. Für manche mag das trivial erscheinen, aber für mich – hier und jetzt – bedeutet er die Welt.“ Das sagt der Dichter Onias Langveld zu Beginn eines Films, der zusammen mit dem Holzstab den Auftakt zur Ausstellung „Kunst als Beute. 10 Geschichten“ bildet. Der Film veranschaulicht in vier berührenden Minuten, welch enorme symbolische Bedeutung der geschnitzte und verzierte Holzstab aus Surinam für die Menschen aus diesem Kulturkreis besitzt.

Langveld verbindet damit Identität, Stolz und Heimat. Denn Langvelds Onkel ist Chief des Ndyuka Volkes aus der Region Wanhatti, aus der das Exponat stammt. Doch wie gelangt ein solcher Gegenstand aus dem nördlichen Surinam in Südamerika in das Ethnologische Museum in Berlin?

Verzierter Stab aus Suriname.
Verzierter Stab aus Suriname.

© Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum / Claudia Obrocki, CC BY-SA 4.0

Unrechtskontexte mit VR dargestellt

Die Ausstellung im Humboldt Forum spiegelt die zentralen Fragen der Provenienzforschung, nämlich die nach der Herkunft von Objekten und damit immer verbunden auch die Fragen nach den Unrechtskontexten, in denen sie vermeintlich geraubt oder erworben wurden.

Doch wie kann ein Museum diese langwierige, akribische, aber so wichtige Detektivarbeit visuell ansprechend präsentieren? Dieser Herausforderung stellten sich die Gastkuratoren Eline Jongsma und Ken O’Neill. Die ungewöhnliche Farbgebung der Räume (in violetten Abstufungen), die Filme und VR-Räume, die die ausgestellten Objekte in größere Geschichten einbinden, all diese Elemente brechen mit unseren Sehgewohnheiten und laden die Besucher zu einem immersiven Erlebnis ein.

Blick in die VR-Installation im Humboldt Forum.
Blick in die VR-Installation im Humboldt Forum.

© Jongsma + O’Neill

Wer die Wandtexte nicht lesen mag, kann den räumlichen und zeitlichen Kontext der geraubten Objekte per VR-Brille erfahren oder einen kurzen Film anschauen. Die digitalen Interventionen sind zwischen zwei bis vier Minuten gehalten, und bedienen damit bewusst die kurze Aufmerksamkeitsspanne des Menschen unserer Zeit. Kurzum: die Präsentation ist frisch, kreativ und eine Herausforderung für die Wahrnehmungsgewohnheiten konservativer Museumsbesucher.

Die Ausstellung ist im Humboldt Forum zu sehen, doch wurde sie vom Mauritshuis Museum in Den Haag initiiert, wo sie bereits letztes Jahr ihr Debüt feierte. Die Direktorin vom Mauritshuis war es auch, die die Digital Creatives Jongsma und O’Neill ins Boot holte, um einen externen, unvoreingenommenen Blick auf das Thema Beutekunst zu werfen.

Jedes Objekt eine eigene Welt

Herausgekommen sind zehn Provenienzgeschichten von geraubter Kunst aus verschiedenen Epochen, die jede für sich „eine Welt“ erzählt. Wie etwa im Falle des anfangs erwähnten Holzstabs. 1903 erwarb das Ethnologische Museum den Stab vom Reisenden Paul Körner. Eine vertiefte Recherche förderte eine Notiz zutage, in der handschriftlich vermerkt wurde, dass ein Angestellter eines Missionsladens in Wanhatti diesen Stab einem Dorfbewohner aus der Hand riss, der in dem Laden lediglich einkaufen wollte.

Der Eigentümer des Holzstabs gehörte zu den Ndyuka, einer Gruppe der Maroons, die vor der Sklaverei auf den Plantagen geflohen waren, um im Hinterland von Surinam Schutz zu suchen, versteckt im dichten Dschungel. Bis heute ist nicht bekannt, wozu der Stab ursprünglich diente. Langveld ist der erste seines Volkes, der diesen Stab im Ethnologischen Museum im Beisein der Restauratorin in Händen halten konnte. Der Film hält diese Berührung fest. Langveld erkennt die Male auf Gesicht und Körper der weiblichen Figur am Kopf des Stabes. Auch seine Großmutter trug solche Male im Gesicht, sagt Langveld. Eine entscheidende Erkenntnis.

Der Stab wurde in einer Zeit geraubt, als die niederländische Kolonialmacht in Surinam aktiv war. Das Kuratorenduo wählte Objekte aus drei Epochen aus: den napoleonischen Kriegen im 18. Jahrhundert, dem Nationalsozialismus von 1933 bis 45 sowie der Kolonialzeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Koloniale Beute im Humboldt Forum

Auffällig ist, dass alle Objekte aus Kolonialkontext Leihgaben des Berliner Ethnologischen Museums und des Stadtmuseums sind. Denn das Mauritshuis besitzt keine Raubkunst aus dieser Zeit. So ist die Kooperation mit der Stiftung Humboldt Forum entstanden und damit verbunden mit den dortigen Museen.

Kris (Dolch), aus Bali, Indonesien.
Kris (Dolch), aus Bali, Indonesien.

© Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum, Foto: Martin Franken

Es ist nicht gerade rühmlich, wenn der Direktor des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst zu Berlin Lars-Christian Koch konstatiert: „Große Teile der Sammlungen des Ethnologischen Museums wurden während der Kolonialzeit unter asymmetrischen Machtverhältnissen zusammengetragen: durch Tausch, Kauf, als Geschenk und in vielen Fällen auch durch gewaltsame Aneignung.“

Die Auswahl scheint zufällig

Die Auswahl der zehn Geschichten erscheint zunächst eklektisch und zufällig: Eine erzählt von der geglückten Rückgabe eines Rembrandt-Selbstporträts an die rechtmäßigen Erben, eine andere von der erfolglosen Suche nach dem Besitzer einer französischen Kommode von 1750. Wieder andere von Kopien, Rekonstruktionen und 3-D-Modellen von restituierten Objekten, wie etwa den berühmten Benin-Bronzen oder der von Napoleons Truppen geraubten Quadriga auf dem Brandenburger Tors. Damit zeigen die Geschichten und Objekte die enorme Bandbreite der schwierigen Provenienzarbeit – ihre Erfolge, Herausforderungen und auch Scheitern.

Jongsma und O’Neill sprechen offen über Themen, über die Museumsleute nicht so unbefangen sprechen können: „Wir konnten ohne Ängste, Befindlichkeiten oder politische Folgen an die Sache rangehen. Das gab uns einen viel größeren Spielraum beim Storytelling.“

Auch wenn der kuratorische Ansatz nicht jedermanns Geschmack ist, vermag er zu inspirieren, weil die Interaktionen und Berührungen zwischen Mensch und Objekt im Zentrum steht anstatt nur das museale Artefakt. Vor allem kann er dem Humboldt Forum und den Staatlichen Museen den Anstoß geben, die nächsten Ausstellungen über Beutekunst aus Kolonialkontexten selbst proaktiv zu initiieren. Diese kleine Auswahl kann nur der Anfang sein von einer Reihe von Tausenden von Provenienzgeschichten, die ans Licht wollen. Das zumindest ist die Hoffnung.