Zwischen Klassik und Duran Duran
Am Anfang des Films „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ steht eine Sexszene: Betty (Beatrice Dalle) und Zorg (Jean-Hughes Anglade) haben Sex auf dem Bett, unter einem Print der Mona Lisa. Sie stöhnen dem Höhepunkt entgegen, während die Kamera sich langsam nähert, um die beiden nicht zu stören. „Ich kannte Betty seit einer Woche“, sagt Zorgs Stimme aus dem Off. „Wir vögelten jede Nacht.“
Danach sieht man Zorg hupend und jubelnd mit dem Auto an der südfranzösischen Küste entlangrasen, zum Strandhaus, in dem er wohnt, als Hausmeister arbeitet und Sex mit Betty hat. Er nimmt einen dampfenden Topf vom Herd, tanzt damit in der Küche herum, und summt eine Melodie, die Sekunden später, bei Bettys ikonischem Entré, zu ihrer Erkennungsmelodie wird: Sie kommt nur mit einer Schürze, roten Mules und Kreolen bekleidet herein.
Ungezwungener Umgang mit Künstlichkeit
Eskalation, Tempo, Hitze, Leidenschaft und die Artifizialität eines Achtziger-Jahre-Duran-Duran-Videos – all das packte Regisseur Jean-Jacques Beineix 1986 in seine Romanadaption. „Betty Blue“ war Beineixs dritter Langfilm, und wie „Diva“, sein Debüt von 1981, lebt er vom ungezwungenen Umgang mit Künstlichkeit. Der Plot des Thrillers „Diva“, der das „Cinéma du look“ (zu dem auch die Werke von Luc Besson und Leos Carax gehören) begründete, kreist um die Weigerung einer Operndiva, ihren Gesang aufnehmen zu lassen. Der Protagonist Jules bootleggt jedoch bei einem ihrer Konzerte eine Arie aus „La Wally“ und stiehlt der Diva auch noch ihr Kleid. Hernach muss er sich verschiedenster Gangsterattacken erwehren.
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Beineix verschmolz zwei Welten
Die Schlüsselszene in der Oper wurde von Beineix als opulenter Klassik-Trip inszeniert. Alles in dieser Sequenz glänzt: Das makellos-weiße One-Shoulder-Kleid der Sopranistin, die verspiegelten Sonnenbrillen zweier Gangster, Jules’ begeistertes Gesicht, und natürlich die Stimme von Wilhelmenia Fernandez.
Seriöse Klassik in einen New Wave-Thriller zu integrieren, in dem Paris per Mofa erkundet wird, das war nach der zuweilen sperrigen, schwarz-weißen Nouvelle Vague etwas Neues in der Filmszene. Und verschmolz mühelos zwei Welten: Die Blicke von Menschen, die in der französischen Wirtschaftskrise Ende der Siebziger aufwuchsen, mit der glatten Video-Ästhetik der beginnenden Achtziger, in der Pathos und Klassik einen Platz haben. (Luc Bessons Alien-Opernszene in „Das Fünfte Element“ zitierte „Diva“, einen „Zorg“ gab es bei Besson auch.)
Nach Hollywood wollte er nicht
Der 1946 in Paris geborene Jean-Jacques Beineix hatte sich zunächst für Medizin eingeschrieben, bevor er 1969, geprägt von der Filmkunst dieser Zeit, an eine Pariser Filmschule wechselte. Nach einem ersten Kurzfilm begeisterte er mit „Diva“ die Filmfans – auch wenn ihm Kritiker „Mainstream-Ästhetik“ attestierten. Dem mit Gérard Depardieu und Nastassja Kinski prominent besetzten, aber erfolglosen „La lune dans le caniveau“ von 1983 folgte 1986 der für einen Auslandsoscar nominierte „Betty Blue“. Dennoch kam Beineix nicht über die maue Rezeption von „La lune“ hinweg – und inszenierte nur noch drei weitere Spiel- und einige Dokumentarfilme, 2002 zum Beispiel „Loft Paradoxe“, der sich kritisch mit der französischen Version des Reality-Formats „Big Brother“ auseinandersetzte.
Die Regie bei „Der Name der Rose“ und „Alien 4“ zu führen, hatte Beineix, der mit 60 seine Memoiren schrieb, angeblich abgelehnt: Er wollte nicht nach Hollywood. So blieb Jean- Jacques Beineix in Frankreich, wo er am Donnerstag mit 75 Jahren an Leukämie gestorben ist.