Ich erfinde, also bin ich
„Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält“. Einer der zentralen Sätze in Max Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein“. Und seit 1964 nicht falscher geworden. Der Schweizer Schriftsteller verwirft in diesem Buch den Glauben an eine bruchfeste Identität, weil jedes „Ich“ ja letztlich nur eine Rolle ist.
Er führt die Suche nach Wahrheit in der Fiktion ad absurdum, den sozialen Rang, mit dem wir uns schmücken, kurzum: Frisch lässt nicht viele Gewissheiten übrig. Sein Erzähler setzt als äußerst unzuverlässiger Demiurg ein Spiel mit biografischen Möglichkeiten in Gang, bei dem die Karten jederzeit offen liegen: Alles könnte anders sein. Das war damals ein durchaus kühnes literarisches Experiment, wurde allerdings oft reduziert auf die Kalendersentenz: „Ich probiere Geschichten an wie Kleider“.
Brandt er brüllt, barmt, lechzt nach „Schößen“
Am Berliner Ensemble holt jetzt Intendant Oliver Reese den Roman auf die Bühne. Als Monolog, getragen von Matthias Brandt. Das hat schon vorab viel Interesse angefacht, weil Brandt zuletzt vor 20 Jahren im Theater zu sehen war. In der Zwischenzeit hat er in einigen sehr guten Filmen wie Christian Petzolds „Transit“ mitgewirkt und den TV-Kommissar gegeben. Jetzt also „Gantenbein“ in 100 Minuten.
Ein Kraftakt – und genau danach sieht es auch aus. Kleider anprobieren? Über weite Strecken des Abends wirkt es eher, als würde Brandt in den Bergmannshabit steigen, um unter Tage nach Geschichten zu schürfen. Ächzend unter dem Druck, sich da unten erfinden zu müssen. Was auch eine legitime Frisch-Lesart wäre: das Menschenspiel als Schwerstarbeit.
Bühnenbildner Hansjörg Hartung hat einen holzvertäfelten, nach vorne und hinten offenen Guckkasten hingestellt, den Brandt anfangs noch Moll-temperiert durchwandert. Als einer, der verlassen in die Wohnung zurückkehrt, die er mal mit einer Frau bewohnt hat. Nun beginnt das große Vorstellungstheater. Der der titelgebende Herr Gantenbein wir ins Leben gerufen, der nach einem Unfall den Blinden spielt und die Kosmetikerin-Schrägstrich-Sexarbeiterin Camilla kennen lernt, deren Profession er hinter dunkler Brille nicht zur Kenntnis nehmen muss.
Enderlin wird geboren, ein Wissenschaftler, der vor dem ersehnten Ruf nach Harvard erschrickt und sich lieber in die Krankheit flüchtet („Was überzeugt, sind nicht Leistungen, sondern die Rolle, die einer spielt. Das ist’s, was Enderlin spürt“). Und der Böhme Svoboda tritt auf den Plan, Ehemann der Schauspielerin Lila, mit der sowohl Gantenbein als auch Enderlin eine Affäre haben. Wobei die Kategorien von Treue und Betrug bei Frisch nicht mehr als austauschbare Bausteine im Setzkasten der Selbsterzählung sind.
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Matthias Brandt berserkert durch dieses Figuren-Kabinett, er brüllt, barmt, lechzt nach „Schößen“, sackt zusammen. Regisseur Reese unterlegt das wechselweise mit Jazz oder Streicher-Schmalz, lässt seinen Darsteller unentwegt mit überflüssigen Requisiten hantieren, fährt Flugzeugsitze auf die Bühne oder ein Ultraschallbild vom Schnürboden. Warum so viel Betrieb, so viel Äußerlichkeit? Immer wieder senken sich auch Neon-Rahmen herab, die den Guckkasten vervielfältigen. Ein Spiegel-im-Spiegel-Bild für die unendlichen Optionen der Fiktion.
Hier allerdings wird es dann doch interessant. Verleger Helge Malchow hat fürs Programmheft einen Text verfasst („Ich erfinde, also bin ich“), in dem er unter anderem das Spiel mit Rollen im „Gantenbein“ als originären Theatervorgang und „Instrument der Freiheit“ beschreibt. Es zeige sich darin eben „nicht nur die von außen kommende Festlegung menschlichen Handelns“. Sondern auch das Gegenteil: „die jederzeit mögliche Aufhebbarkeit und Veränderbarkeit von Lebenswegen und Lebensmöglichkeiten“.
[Wieder am 18./19., 23.-25.1., 19.30 Uhr, weitere Vorstellungen im Februar]
Was Brandt und Reese in den besten Momenten der Inszenierung spüren lassen, ist die Unfähigkeit, mit dieser Freiheit etwas anzufangen. Der Verdruss, dass gerade die Männer sich am Ende doch immer wieder die gleichen Kleider aus einer riesigen Garderobe greifen und die vorhersehbaren Stücke aufführen, die existenzielle Wiederholungsmüdigkeit, die einen erfassen kann ob dieses Mangels an Erfindungsreichtum – aber auch angesichts des Zwangs, überhaupt immer jemand sein zu müssen.
Bleibt die Frage, ob ein Monolog überhaupt die ideale Form für so eine „Gantenbein“-Unternehmung ist. Klar, Regisseur Reese hat gute Erfahrungen mit Ein-Mann-Literatur-Adaptionen gemacht – siehe seine noch in Frankfurt entstandene „Blechtrommel“ mit Nico Holonics. Für Frischs Wechselspiel der Identitäten ist das aber nur die naheliegendste Option.
„Jetzt ist nicht die Zeit für Ich-Erzählungen“ sagt Brandt gegen Ende. Genau darauf zielt diese Inszenierung jedoch: die One-Hero-Story. Nicht nur erfinden wir uns Geschichten, die wir für unser Leben halten. Wir neigen auch dazu, sie als Erfolgsgeschichte zu verkaufen. Am Ende tosender Applaus für Matthias Brandt.