Bloß keine Öffentlichkeit
Der Skandal geht in die nächste Runde. Auf der Documenta sind weitere Zeichnungen aufgetaucht, die von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (Rias Hessen) als antisemitisch eingestuft werden, nachdem eine Ausstellungsbesucherin sie darauf aufmerksam gemacht hatte. Die künstlerische Leitung der Documenta kommt jedoch zu einer anderen Einschätzung der Karikaturen, die sich einer als Archivmaterial ausgelegten Broschüre eines algerischen Frauenkollektivs finden. Deshalb hat sie nach eigener Analyse das historische Heft wieder zurück in die Ausstellung gelegt. Ohne dies zu kommentieren.
Es gebe bei den Zeichnungen zwar „eine klare Bezugnahme auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, aber keine Bebilderung von Juden ,als solchen’“, hieß es nun in einem Documenta- Statement über die Vorgänge vor etwa drei Wochen. Die Prüfung und das Zurücklegen der Broschüre fanden also noch unter Leitung der inzwischen abberufenen Generaldirektorin Sabine Schormann statt, die wegen der verschleppten Aufarbeitung rund um ein Werk der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi mit antisemitischen Motiven gehen musste.
Die Kuratoren von Ruangrupa schweigen weiterhin
Die Documenta-Gesellschafter, also die Stadt Kassel und das Land Hessen als Träger der im Juni eröffneten Weltkunstausstellung, wussten wieder einmal von nichts. In einer Mitteilung vom Donnerstag betonen sie, die rechtliche Bewertung der Bilder durch Externe sei ein richtiger Schritt gewesen, aber leider sei die Frage, ob auch hier eine antisemitische Bildsprache vorliegt, „lediglich intern bewertet“ worden. Auch sei versäumt worden, eine Kontextualisierung vorzunehmen.
„Diese Vorgänge haben nicht unter der Verantwortung des Interimsgeschäftsführer Alexander Farenholtz stattgefunden“, heißt es in dem Statement. Farenholtz war Anfang letzter Woche als Interims-Chef berufen worden. Die Gesellschafter werden noch deutlicher: Sie gehen davon aus, „dass die künstlerische Leitung die diskutierten Zeichnungen bis zu einer angemessenen Kontextualisierung aus der Ausstellung nimmt“. Eine klare Aufforderung an das Kuratorenkollektiv Ruangrupa – von dem bisher nichts zu hören ist.
Claudia Roth fordert, dass die Zeichnungen entfernt werden
Die Lage eskaliert also erneut. Vertreter jüdischer Einrichtungen reagierten empört auf den neuen Fund und den Umgang damit. Politiker aller demokratischen Parteien fordern, nicht zum ersten Mal, eine komplette Untersuchung aller Documenta-Werke, Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) schließt sich der Aufforderung der Gesellschafter an, dass die Zeichnungen vorerst entfernt werden sollten. Die FDP geht noch weiter und verlangt einen vorläufigen Stopp, eine Unterbrechung der Documenta, die eigentlich bis 25. September geöffnet ist. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai spricht von einem „Abgrund“: Es könne nicht sein, dass die Ausstellung weiterhin Bundesmittel erhalte und Besucher empfängt, „während diese ungeheuerlichen Vorgänge nicht restlos aufgeklärt und unterbunden sind“. Antisemitismus sei Hass und könne nie von der Kunstfreiheit gedeckt sein. Der Bund ist finanziell mit etwa zehn Prozent am Documenta- Etat beteiligt.
Meron Mendel ist empört
Auch der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, der von seiner Beraterfunktion für die Documenta auch wegen der verschleppten Aufarbeitung im Fall Taring Padi zurückgetreten war, zeigt sich entsetzt. „Während unser pädagogisches Team am Infostand auf dem Friedrichsplatz über antisemitische Bildsprache aufklärt, werden erneut übelste antisemitische Karikaturen bekannt, auf die die künstlerische Leitung der Documenta und Frau Schormann aber offenbar schon vor Wochen von einer Besucherin hingewiesen worden waren“, sagte Mendel. Er sei fassungslos, als damaliger Berater nicht informiert worden zu sein. Auch er spricht von einer „eindeutig antisemitischen Bildsprache“.
Die Broschüre des algerischen Frauen-Kollektivs „Archives des Luttes des Femmes en Algerie“ (Archive des Kampfes der Frauen in Algerien) ist im Rahmen einer größeren Archivpräsentation im Fridericianum ausgelegt. Der Besucherin, die die an der Uni Marburg angesiedelte Informationsstelle Rias Hessen, in Kenntnis gesetzt hatte, waren Darstellungen israelischer Soldaten aufgefallen. Rias prüfte und kam zu dem Schluss, dass die Abbildungen auf judenfeindliche Stereotype zurückgreifen, etwa mit israelischen Soldaten als entmenschlichte Roboter, die vor Kindermord nicht zurückschrecken und die Frauen vergewaltigen.
Das Werk wurde als strafrechtlich nicht relevant eingestuft
Eben dieser Einschätzung widerspricht die Documenta: „Der Davidstern ist zwar ein eindeutig jüdisches Symbol, aber kennzeichnet hier als Bestandteil der Staatsflagge das israelische Militär“. Auch sei das Werk als strafrechtlich nicht relevant eingestuft worden.
Ein Screening der kompletten Kasseler Ausstellung nach etwaigen antisemitischen Motiven lehnt die Documenta weiterhin ab. Das betonte Interims-Geschäftsführer Alexander Farenholtz schon vor einigen Tagen: Unter keinen Umstände dürfe „der Eindruck entstehen, dass durch die fachwissenschaftliche Begleitung eine Kontrollinstanz eingeführt wird“. Farenholtz, Jahrgang 1954, wurde aus dem Ruhestand geholt, er kennt die Documenta, da er bei der Documenta 5 (1992) die Geschäfte geführt hatte. Er weiß sehr wohl, dass die für Finanzierung und Verwaltung Verantwortlichen bei einer Kulturveranstaltungen den Kurator:innen und Künstler:innen nichts vorzuschreiben haben.
Warum wurden die Untersuchungsergebnisse nicht veröffentlich?
Gleichwohl ist bei derart intransparentem und zweifelhaftem Umgang mit mindestens fragwürdigen Ausstellungsstücken auch die Geschäftsführung in der Pflicht. Zwar heißt es nun, erst nach der öffentlichen Intervention und der Kritik von allen Seiten, man werde nun doch eine Kontextualisierung der Broschüre vornehmen. Jeglichen Hinweisen auf als kritisch zu betrachtende Themen werde „selbstverständlich jederzeit“ nachgegangen.
Selbstverständlich ist hier allerdings nichts. Im Gegenteil, es ist völlig unverständlich, dass die Documenta ihre Untersuchungsergebnisse zur Broschüre jetzt erst jetzt der Öffentlichkeit mitteilt, nachdem sie sich erneut mit Kritik konfrontiert sieht. Man mag vielleicht tolerieren, dass es unterschiedliche Sichtweisen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt gibt, dass Experten zu unterschiedlichen Urteilen bei der Interpretation der Zeichnungen kommen. Dass die Documenta nicht von sich aus mit dem neuen Fall an die Öffentlichkeit ging, ist ein weiteres riesiges Versäumnis. Warum geht sie nach all den Beteuerungen, den ersten Skandal aufarbeiten zu wollen, nicht proaktiv vor? Das Kuratorenteam Ruangrupa hat oft betont, die Documenta solle ein Ort des Lernens sein. Das Fridericianum heißt sogar „Fridscul“, in Anlehnung an Runagrupas in Indonesien gegründete Gudskul.
Eigentlich könnten die Besucher ja tatsächlich etwas lernen. Zum Beispiel, wie antisemitische Stereotype aussehen, wie man sie erkennt und wie sich Kritik an der israelischen Politik davon unterscheidet. Wer Ruangrupa als Kuratorenkollektiv ernst nimmt, muss davon ausgehen, dass es bewusst entschieden hat, den Israel-Palästina-Konflikt auf der Documenta in den Fokus zu rücken. Dafür nehmen sie auch judenfeindliche Darstellungen in Kauf.