Der Koloss, die Flaggen und das Mädchen

9. Mai 2022
„Hey, was ist da los bei euch in Berlin?“, fragt mich in unserem WhatsApp-Chat Lesik Omodada, mein Freund und Musikerkollege aus dem ukrainischen Ternopil. Ich war am Wochenende unterwegs und, habe versucht, Nachrichten aus Berlin zu ignorieren.

Die Feierlichkeiten in der deutschen Hauptstadt zum Tag des Sieges (russland sowie in Deutschland lebende russen feiern ihn am 9. Mai) waren in den vergangenen Jahren schwer auszuhalten.

Ich kenne das Ehrenmal in Treptow schon seit der 3. Klasse

Früher in der Sowjetunion hat man den Tag des Sieges immer am 9., nicht am 8. Mai gefeiert, und er hieß schon immer so, der Tag des Sieges, Punkt – kein Trauertag und auch nicht der Tag der Erinnerung. Fürs Trauern und Erinnern blieb mit jedem Jahr weniger Platz. Es kam mir immer krasser vor, es schien, dass der ursprüngliche Anlass, nämlich die Kapitulation von Nazi-Deutschland, in den Hintergrund rückte.

Im Gegensatz zu anderen Völkern, die „Nie wieder Krieg!“ skandierten, träumten die russen nun von neuen Siegen, in neuen Kriegen, und zur populärsten Parole wurde an diesem Maitag „Wir können es wieder tun!“.
Da der Zweite Weltkrieg nach 1945 der Schwerpunkt im Geschichtsunterricht an den sowjetischen Schulen war, habe ich die Bilder vom Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park bereits mit zehn oder elf Jahren gesehen, und zwar im Literaturlehrbuch für die 3. Klasse.

Dort diente das Foto von der zentralen Kolossalstatue des Befreiungskriegers mit dem Kind als eine Illustration zum Gedicht, das den Schülern den notwendigen Kontext lieferte: „Er ist das Symbol unserer Ehre/ Einfacher sowjetischer Soldat!/ Auf seinem Arm ein deutsches Mädchen, das er heldenhaft gerettet hat!“
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1988 war ich mit meinem Vater zu Besuch in Ost-Berlin und dank des Schulprogramms und des sowjetischen Fernsehens kannte ich zwei Orte in der Stadt: das Brandenburger Tor und das Ehrenmal im Treptower Park. Wir lebten in der Elsenstraße bei meiner Schwester und sind eines Morgens dorthin gelaufen, um uns die Gedenkstätte anzuschauen.
In den inzwischen 26 Jahren, die ich in Berlin lebe, war ich wohl nur einmal am 9. Mai da. Ich wollte mit meinen eigenen Augen sehen, wovon mir meine Bekannten erzählt haben.

Auf gewisse Weise war es in der Tat beeindruckend und erinnerte an absurdes Theater: russen in schwarzem Leder, die mit ihren riesigen Motorrädern wie Hell’s Angels aussahen, Kinder in den Uniformen der roten Armee, betrunkene Damen in Nationalkostümen … Der berühmte Regisseur Sergei Loznitsa hat über die Feierlichkeiten im Treptower Park 2017 sogar einen Dokumentarfilm gedreht.

Was ich auf Facebook, Instagram und Twitter in diesen Tagen sehe, überrascht mich leider nicht. Trotz Verbots sehe ich auf den Bildern und in den Videos Menschen mit russischen und sowjetischen Flaggen, auch die Fahnen der so genannten Donezker und Lugansker Volksrepubliken sind dabei, sowie Porträts von Stalin. Gleichzeitig lese ich davon, wie die Berliner Polizei die Ukrainer*innen dazu zwang, ihre gelb-blauen Klamotten auszuziehen.

Ich versuche, das alles Lesik zu erklären. Ich sage, dass es überall Freaks gibt, ich erzähle ihm, wie oft man heutzutage ukrainische Fahnen in Berlin sieht, wie viele Berliner*innen gerade den ukrainischen Flüchtlingen helfen, und sehe dabei immer mehr aktuelle Fotos in Social Media: mal von der Demo am Ehrenmal im Tiergarten, mal von der am Treptower Park. Und immer wieder die Statue des Soldaten ….

Ich kann mich nach 36 Jahren immer noch an ein paar Zeilen aus diesem Kindergedicht erinnern – aber wie ging es weiter? Ich muss googlen und finde es sofort: „Wie vielen Kindern gab der sowjetischer Soldat die Kindheit zurück?/ Wie vielen hat er Freude und Frühling geschenkt?“
Heute glauben die russen, die den Tag des Sieges feiern, dass die Rote Armee eigentlich die russische Armee war. Seit acht Jahren kämpft die russische Armee in der Ukraine. Und am 24. Februar 2022 hat sie allen Kindern des Landes die Kindheit geraubt.

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