Die Wahrheit liegt zu Füßen
Eins kann mit Barbara Krugers Werk in der Neuen Nationalgalerie nicht passieren: dass es übersehen wird. Ihre Textarbeit in Schwarz-Rot-Weiß füllt die gesamte Bodenfläche der gläsernen Halle aus und bezwingt damit das „ultramaskuline Gebäude“, wie der stellvertretenden Direktor Joachim Jäger den Mies van der Rohe-Bau nennt.
Vor Kruger gelang dies ähnlich überzeugend einer anderen großen amerikanischen Schriftkünstlerin: Jenny Holzer mit ihren LED-Schriftbändern, die direkt unter der Decke dem Besucher entgegenliefen. Ihr Werk kommt einem beim Betreten der Neuen Nationalgalerie sogleich in den Sinn. Beide Künstlerinnen sind feministisch engagiert, beide – 1945 und 1950 geboren – gehören der gleichen Generation an.
Die Ausstellung passt besser in die Zeit, als sich vorher ahnen ließ
Während man Holzer in Berlin durch ihre Kunst am Bau als US-Beitrag im Reichstag kennt, ist es für Barbara Kruger die erste Museumsschau in der Stadt. Die Ausstellung „Bitte lachen. Please cry“, so der als Fahne vor dem Mies van der Rohe-Bau flatternde Titel, passt besser in die Zeit, als es die Kuratoren bei ihrer Vorbereitung ahnen konnten.
[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]
Im Zentrum der gläsernen Halle steht auf quadratischem Grund ein Zitat aus George Orwells Buch „1984“. Die Besucher:innen laufen genau darauf zu: „Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der auf dem menschlichen Gesicht herumtrampelt, für immer!“
Kruger übernimmt Orwells universalen Appell
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Erfahrung des Nationalsozialismus sollte Orwells Zukunftsroman eine Warnung vor jeglicher staatlicher Gewalt und Kontrolle sein. Barbara Kruger übernimmt diesen universalen Appell, der seit Ausbruch des Ukraine-Krieges ungeahnte Aktualität erfährt.
Wer außerdem die Performance der ukrainischen Künstlerin Maria Kulikovska auf den Stufen zur Terrasse des Mies van der Rohe-Baus erlebt hat, die sich unter die blau-gelbe Flagge ihres Landes wie ein toter Körper lagerte, der kann sich dieser Interpretation kaum entziehen.
Als Kulikovska, die kurz zuvor von der Krim nach Kiew geflohen war, die Performance 2014 erstmals bei der Eröffnung der Manifesta in St. Petersburg aufführte, wurde sie vorübergehend verhaftet. Heute kann sie weder in die Ukraine noch nach Russland zurückkehren
Wem gehört eigentlich die Neue Nationalgalerie?
Das Bild einer liegenden Person unter ukrainischer Flagge ist eingängig wie Krugers Textarbeiten, die meist kurz und prägnant gehalten sind. Allerdings besteht dabei die Gefahr, dass man allzu schnell glaubt, deren Botschaft verstanden zu haben. „Who owes that?“ steht als knappe Zeile auf dem Boden.
Ein Riesenkomplex eröffnet sich, verweilt man länger bei dieser Frage: Ja, wem gehört eigentlich die Neue Nationalgalerie? Der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, den Kurator:innen, Sponsoren, Künstler:innen, dem Publikum? Kruger trifft damit pfeilgerade in eine aktuelle Debatte an öffentlichen Museen, die sich selbstkritisch hinterfragen, für wen sie da sind.
So geht es weiter, der Besucher erläuft sich kreuz und quer durch den Mies van der Rohe-Bau lautmalerisch die Statements und Zitate, kommt an Smileys mit hoch- und runtergezogenen Mundwinkeln vorbei, der knappesten Aussage in den sozialen Netzwerken. „Wer hätte gedacht, dass die Texte der Zukunft wie ein Haiku aussehen würden?“, sagt die Künstlerin im Interview der Ausstellungszeitung und verweist auf die Macht schneller Beifallsbekundung oder Ablehnung.
Farben und Typografie erinnern an den Konstruktivismus
Krugers Textarbeit in den Farben und einer Typografie, die an den Konstruktivismus erinnert und damit an eine Zeit politischer Eskalation, umspinnt wie ein Gewebe die großen Themen staatliche Gewalt, Besitzstand, individuelle Freiheit. Mies’ rechtwinklige Architektur aus Stahl und Glas steht eben nicht nur für Kultur und demokratische Teilhabe, sondern mitten im Machtzentrum eines Nationalstaates, der Grenzen zieht.
[Neue Nationalgalerie, Potsdamer Staße. 50, bis 28. 8.; Di bis So 10 – 18 Uhr, Do bis 20 Uhr.]
„Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“, lautet ein weiteres Zitat am Boden. Diesmal von Walter Benjamin, der die Praxis der Sieger anprangert, sich die Kultur der Besiegten einzuverleiben und deren Spuren zu tilgen. In der Ukraine passiert gerade genau dies.