Ein Klassiker wird wiederentdeckt: Mehr Respekt
Aus heutiger Perspektive wäre Anthony Caro wohl der nachhaltigsten Künstler überhaupt. Kein Schrottplatz war vor dem Briten sicher, wo immer er hinkam, wollte er ihre Adressen wissen und setzte seine teils monumentalen Skulpturen aus stählernen Resten zusammen, die außer ihm niemand mehr wollte. Räder, Schienen, T-Träger und andere industrielle Formen: Man entdeckt eine ganze Menge davon in Caros Werk, sobald man die Herkunft seiner Materialien durchschaut.
Andererseits gab es in jüngerer Vergangenheit wenig Möglichkeiten, die Arbeiten des berühmten Bildhauers zu studieren, der 1987 von Queen Elisabeth zum Ritter ernannt und später auch Mitglied im Order of Merit wurde. 2019 baute die Gemäldegalerie Caros üppige Installation „„The Last Judgement Sculpture“ aus 25 riesigen Elementen auf. Sonst aber scheint Zeit über die schweren Stahlfiguren des zweimaligen Documenta-Teilnehmers etwas hinweggegangen. Ein Kapitel viriler Kunstgeschichte, das bloß noch selten aufgeschlagen wird.
Also startet die Galerie Max Hetzler eine Wiederentdeckung mit Plastischem aus sechs Dekaden. Von frühen, wegweisenden Arbeiten wie „First National“ (1964) bis zum späten Schwergewicht „Terminus“, das 2013 in Caros Todesjahr entstand und in dem sich sein Schaffen quasi noch einmal visuell stapelt und einkapselt. Sämtliche Exponate stammen aus dem Londoner Anthony Caro Centre, dessen Direktor Paul Moorhouse auch die Ausstellung aufgebaut hat. Ein Glück, denn Moorhouse war lange Kurator an der Tate Gallery und bringt neben seiner Erfahrung im dialogischen Aufbau einer Ausstellung ein profundes Gespür für Caros Lebenswerk mit.
Sein Gang durch die Ausstellung, die neben Skulpturen auch Zeichnungen aus verschiedenen Phasen enthält, lässt den Künstler plötzlich wieder zeitgemäß erscheinen. Wegen der Konsequenz, mit der Caro seine Materialien recycelte, natürlich. Aber auch, weil sich in den abstrakten Formen etwas spiegelt, das Moorhouse für essentiell bis in die unmittelbare Gegenwart hält. Es sei der amerikanische Star-Kritiker Clement Greenberg gewesen, erklärt er, der Caro in den Vereinigten Staaten von der figürlichen Sprache abbrachte. Sie hatte der Künstler noch in den 1950er-Jahren als Assistent von Henry Moore gelernt, befand sich aber damals in einer Krise. Mit Greenberg sprach er über die Strömungen in anderen New Yorker Ateliers – und Caros Befreiungsschlag mündete in kompletter Abstraktion, wie sie „First National“ zeigt: Eine Skulptur aus gelben Stäben und einer stählerne Fläche, die zwischen zwei grünen Vertikalen ruht. Was nicht heißt, dass es hier keine Bezüge zur menschlichen Figur mehr gibt. Moorhouse dreht und wendet sich vor der Arbeit, streckt einen Arm und kickt das Bein nach vorn. Ob man die Parallelen sieht? Caro, sagt er, habe Bewegungen, die Zustände des Körpers studiert und festgehalten. Nur nicht mehr in Gestalt von Körperteilen, sondern reduziert auf dynamische Gesten in Stahl.
Schweißend bewegte sich der Künstler Richtung Avantgarde. Eine zentraler wie bedeutender Vertreter moderner Bildhauerkunst. Daran zweifelt niemand, denn Sir Anthony Caro zählt zum Kanon des 20. Jahrhunderts, dessen ästhetische Schöpfungen bis heute Einfluss auf die Kunstproduktion haben. Dennoch darf man seine frühen, nahezu schwerelos wirkenden Experimente mehr schätzen als die Wucht des Spätwerks. Je souveräner Caro wird, desto mächtiger formuliert sich sein gestalterischer Wille. Schließlich kommt das Interesse an der Architektur hinzu, der Dialog zwischen Mensch und Umfeld. Ersterer fühlt sich vor Kompositionen wie „Magnolia Passage“ (2005/6) unendlich klein und fragil. Aber vielleicht entspricht dies genau der Absicht, die Caro als alter Mann im Sinn gehabt hat: Respekt vor der Größe des Universums.
Galerie Max Hetzler, Potsdamer Str. 77-78; bis 29. Oktober, Di–Sa 11–18 Uhr
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