Besuch vom Magier
Es geht sofort los mit dem Klangzauber. Das Deutsche Symphonie-Orchester und sein ehemaliger Chefdirigent Tugan Sokhiev brauchen keine Anlaufphase: Ab dem ersten Takt finden sie am Mittwoch in der Philharmonie die denkbar dichteste Atmosphäre für Tschaikowskys „Francesca da Rimini“. Die 1876 uraufgeführte Tondichtung ist von Dantes „Divina Commedia“ inspiriert, von der Höllen-Episode, in der es um verbotene Liebe geht.
Infernalisch ist das sinfonische Geschehen hier in der Tat, und Sokhiev weiß die Schrecken akustisch aufs Raffinierteste auszumalen. Das DSO folgt ihm dabei mit höchster Konzentration und rückhaltloser Hingabe. Jede Linie, jedes Wendung hat Bedeutung, jeder Musiker, jede Musikerin weiß um die Bedeutung der eigenen Stimme für das suggestive Ganze. So entsteht ein Klang von faszinierender Tiefenwirkung, ein umwerfender 3D-Sound, der bei den Zuhörern sofort das Kopfkino in Gang setzt, Tschaikowskys Frühwerk zur szenischen Kollage macht.
Ungewohnter Zugriff auf Schostakowitsch
Tugan Sokhiev braucht dazu übrigens keinerlei armfuchtelnde Pultspringerei, im Gegenteil, er entfesselt die emotionalen Stürme mit absolut ruhiger Gestik. Weil er Musik atmet, weil die Partitur, die er zuvor allein für sich bis ins kleineste Detail studiert hat, in seinen Körper übergegangen ist und sich nun über sein ganzes Wesen mitteilt, wie er einmal in einem Gespräch mit dem Tagesspiegel erklärt hat.
Ganz anders, aber nicht minder interessant ist an diesem umjubelten Abend Sokhievs Zugriff auf Dmitri Schostakowitschs 9. Sinfonie. Denn er deutet sie nicht als politisches Statement, will zwischen den Noten nicht die Erzählung vom endlosen Leiden des Komponisten am Sowjetregime finden, wie es mittlerweile üblich ist. Nein, er dirigiert hier nur die pure Sinfonik, als autonome Musik. Und die klingt leicht, heiter, manchmal clownshaft grotesk, wie ein Ballett, das im Zirkusmilieu spielt. Das DSO nimmt die Lesart an – und kann zeigen, auf welchem fantastischen Niveau es aktuell spielt, technisch meisterlich, klanglich brillant.
Der ungewohnte Blick auf Schostakowitsch lässt sich durchaus als Sokhievs Kommentar zu seiner eigenen Situation deuten: Kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine geriet der apolitische, ganz in seiner Kunst lebende Dirigent selbst zwischen den Fronten, nämlich zwischen den moralischen. Woraufhin er sich genötigt sah, sowohl seinen Posten als Chef des Moskauer Bolschoi Theaters niederzulegen als auch seine Chefdirigentenposition im südfranzösischen Toulouse. Das DSO dagegen sah keinen Grund, ihn auszuladen.
Als Einspringer für Truls Mörk, der am Mittwoch eigentlich Camille Saint-Saens 2. Cellokonzert spielen sollte, konnte das DSO den jungen Franzosen Victor Julien-Laferrière gewinnen. Sein Ton ist nicht besonders nobel, dafür aber sehr direkt – er springt das Publikum gerade zu an. Und weil Victor Julien-Laferrière zudem rhetorisch beredt ist und sich stilistisch auf vertrautem Terrain bewegt, kann er einen vollen Erfolg für sich verbuchen.