Lasst alle Hoffnung fahren

Grüne Ekelfarbe ergießt sich über eine Treppe, auch aus dem Wasserhahn einer Nobelvilla. Blutverschmierte Rebellen kapern das Krankenhaus, es herrscht Chaos in Mexiko-Stadt. Grün und rot, es sind die Farben der Landesflagge, aber das bleibt die einzige Orientierung.

Gleich zu Beginn von „New Order – Die neue Weltordnung“ zerfetzt Regisseur Michel Franco die Bilder in wild flackernde apokalyptische Schnipsel und Sounds. Körper werden über Flure geschleift, Feuer bricht aus, Schreie, Detonationen, Rotorenrlärm.

Lasst alle Hoffnung fahren: Schostakowitsch-Klänge grundieren die Szenerie, Musik aus der Symphonie Nr.11 mit dem Untertitel „Das Jahr 1905“, in Anspielung auf den Petersburger Blutsonntag, als die Truppen des Zaren ein Massaker an Demonstranten verübten.

Auf das wuchtig irritierende Vorspiel folgt der trügerische Frieden am Luxus- Schauplatz. Marianne, die Tochter der Novellos (Naián González Norvind), feiert Hochzeit, beim Empfang in der Familienresidenz fließt nicht das Blut, sondern der Champagner. Die Jugend dröhnt sich zu, Onkel Victor, der Clan-Chef, macht Geschäfte, Mariannes Mutter (Lisa Owen) verstaut die Umschläge mit den Geldgeschenken im Schlafzimmer-Safe und scheucht das indigene Personal mit knappen Befehlen durch die Räume.

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Ein großformatiges Informel dominiert den Salon, gerade so, als sei das Vorspiel zum abstrakten Gemäldeerstarrt. Während die Rebellion immer näher an die gated community rückt und erste Farbbeutel auf den SUVs der High Society landen, choreografiert Franco eine Klassengesellschaft unter Druck, zwischen althergebrachten Hierarchien, Hybris, Bigotterie und latenter Nervosität.

Unentwegt folgt die Kamera (Yves Cape) der Mutter oder dem Dienstmädchen Marta (Mónica del Carmen) auf ihren Gängen durchs Haus. Party hin oder her, die Lage ist angespannt. Und das nicht nur weil der frühere Angestellte Rolando plötzlich im Hof steht, um Geld für die Operation seiner herzkranken Frau zu erbitten, und verscheucht werden muss.

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Vielleicht wurde der Regisseur ja wegen dieser virtuosen Choreografie beim Filmfest Venedig 2020 mit dem Großen Jury-Preis ausgezeichnet. Zuvor reüssierte der Mexikaner, Jahrgang 1979, mit Sozialdramen, er gewann Preise in Cannes, mit Kammerspielen über Armut, Gewalt, verzweifelte Familien. Gerne arbeitete er dabei mit Laiendarstellern. Diesmal fährt er großes Geschütz auf, den Venedig-Preis hat er wohl eher für seinen Rigorismus erhalten.

Denn es dauert nicht lange, und die Hochzeitsgesellschaft wird von den Aufständischen heimgesucht. Auf der Stelle plündern auch die Dienstleute die Schränke der Herrschaft. Der Brautvater wird als erstes niedergemäht, Leichen pflastern die Terrasse des Anwesens.

„New Order“ wird öfter mit Bong Joon-hos Oscar-Gewinner „Parasite“ verglichen: Auch Francos Film verweigert die Unterscheidung von „Guten“ und „Bösen“. Aber seine Radikalität gilt nicht der präzisen Beobachtung eines Klassenkampfs, des Politischen im Privaten oder der psychosozialen Deformation durch Ausbeutung. Sie gilt vor allem der Zuschauererwartung, die der Film mit jeder weiteren Minute gnadenlos vor den Kopf stößt. Kein Ende der Grausamkeiten, und es wird immer schlimmer.

Franco zeigt eine Welt ohne Gnade, in einem gnadenlosen Film

Als Marianne, die einzige, die noch so etwas wie ein Herz hat, die Hochzeit verlässt und mit dem jungen Hausangestellten Cristian (Fernando Cuautle) ins Armenviertel fährt, um Rolandos kranke Frau ins Spital zu bringen, wird sie von der ultrabrutalen Armee entführt. Folgen Militärgefängnis, Massaker, willkürliche Erschießungen, Folterungen, Vergewaltigungen, Hinrichtungen – immer so gefilmt, dass man es gerade noch aushält. Die Unbarmherzigkeit der Rebellen ist nichts gegen die Militärdiktatur, wobei die Generäle mit der korrupten Elite verbandelt sind. Bis zum Ende hat Onkel Victor seine Finger im Spiel. Und der Ausnahmezustand gestaltet sich für die überlebenden Reichen weit angenehmer als in den anderen Teilen der Stadt. Hier herrscht halbwegs Ruhe (mit neuem Personal), während Marta, Rolando und ihre Leidensgenossen nur noch mörderische Willkür und Anarchie erleben.

Die Ausgebeuteten rächen sich und überfallen die Hochzeitsgesellschaft der Reichen.Foto: Acot Elite Entertainment

Francos Thriller ist auf Ernüchterung aus, er zeigt eine Welt ohne Empathie. Auch der Film selbst zeigt keinerlei Mitgefühlt und nimmt fatalistisch-sadistische Züge an, wenn er Marianne, Marta oder Cristian erst gezielt als Hoffnungsträger aufbaut, um sie dann brüsk von der Dramaturgie entsorgen zu lassen. Und warum die Duschszene im Gefängnis, die Assoziationen an die Gaskammern der Nazis weckt?

„New Order“ sei eine Warnung, sagt Michel Franco. Er verweist auf die drastische Kluft zwischen Arm und Reich in Mexiko, ebenso auf Protestbewegungen wie die der Gelbwesten in Frankreich oder die „Wir sind die 99 Prozent“-Aktivisten des Occupy Movements. Auch der Arabische Frühling kommt einem in den Sinn. Aber verrät man nicht jeden Kampf für eine gerechtere Welt, wenn der Terror, mit dem er niedergeschlagen wird, zur Zwangsläufigkeit erklärt, zur unweigerlichen Folgeerscheinung? So ist er nun mal, der Lauf der Welt?

Der universelle Anspruch macht „New Order“ jedenfalls kleiner, als die aufwändig martialische Zuspitzung glauben machen möchte. Auch Alfonso Cuaróns Mexico-Melodram „Roma“ erzählte von der Ungleichheit zwischen der Bourgeoisie und ihren indigenen Dienstleuten. In seiner stillen Empathie hatte er ungleich mehr Sprengkraft.
Zu sehen in acht Berliner Kinos, meistens OmU.