Der Fußball lässt Italien wieder träumen
Nackte Oberkörper, in Fäusten geschwungene blaue Trikots, Jubelschreie der Freude – so sah es auf vielen italienischen Piazzen nach dem entscheidenden verwandelten Elfmeter von Jorginho im Halbfinale gegen Spanien aus. Für das Endspiel erhoffen sich die italienischen Fans ähnliche Szenarien. Denn sie haben etwas, woran sie glauben können, was sie aus der Corona-Depression mit verlorenen Freunden und Familienmitgliedern, mit Einschränkungen und Einkommensverlusten wieder herausholt. Die neue Squadra Azzurra lässt Fußball-Italien auch der Erinnerung an die so jämmerlich verpasste WM 2018 entfliehen. „Italien ist wieder bereit zum Träumen“, schrieb die „Gazzetta dello Sport“ über die Stimmung im Land.
Roberto Mancini, dem commissario tecnico, ist ein bemerkenswerter Wiederaufbau aus den Trümmern geglückt. 35 Spieler haben seit seinem Amtsantritt für die Nationalmannschaft debütiert. Gecastet hat Mancini in vielen Ländern und Ligen. Es waren Männer dabei, die niemand mehr kennt wie der damals in Portugal spielende Cristiano Piccini. Oder Talente aus der Zweiten Liga wie Sandro Tonali und Gaetano Castrovilli.
Das System steht über den Einzelspielern
Mancini ging dabei nicht wie der klassische Nationaltrainer vor, der die Besten seines Landes beruft und daraus einen guten Mix zu kreieren versucht. Er hatte vielmehr von Beginn an sein 4-3-3 vor Augen und suchte für dieses System Stammkräfte und gleichberechtigte Back-ups.
Das System variiert er je nach Spielsituation. Einer der Außenverteidiger geht im Übergang von Defensive auf Angriff nach vorn, so dass nur noch eine Dreierkette absichert. Bei sicherem Ballbesitz drängen die dribbel- und schussstarken Außenstürmer Lorenzo Insigne und Federico Chiesa in die Mitte, Chiesa zieht es auch gern in die Angriffsseite. So fielen die Tore im Auftaktspiel gegen die Türkei sowie im Achtel-, Viertel- und Halbfinale. Von hinten drücken die Mittelfeldspieler nach. Oft sind fünf, sechs Spieler unmittelbar an den Angriffen beteiligt. Manuel Locatelli schoss so die Schweiz ab, Matteo Pessina erledigte Wales und besorgte die Erlösung im Achtelfinale gegen Österreich. Nicolo Barella traf gegen Belgien eine Runde später.
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Die Vielzahl der Torschützen zeigt die Breite im Kader und die Variabilität im Angriff. Gegner wissen nicht, auf wen sie sich konzentrieren sollen. Zudem überspielt Mancini damit die einzige größere Schwäche. Einen erstklassigen Mittelstürmer hat Italien nicht, nur den tapfer in den Lücken gehenden früheren Dortmunder Ciro Immobile oder den Brecher Andrea Belotti vom FC Turin. Mancini immerhin hält beiden die Treue, was für ihr Selbstbewusstsein wichtig ist. In seiner aktiven Zeit war der Trainer selbst Angreifer.
In Defensivsituationen sieht das System vor, dass die Außenstürmer auf die Linie des Mittelfelds zurückgehen und einen Fünferriegel bilden. Insigne und Chiesa, die Offensivstars, sind sich nicht dafür zu schade, in der Defensive die Bälle abzulaufen.
Fällt die Offensive wegen ihrer zahlreichen schön herausgespielten Tore stärker ins Auge, so ist die Abwehrorganisation vielleicht sogar noch höher einzuschätzen. „Mancini hat die Spieler gut darin ausgebildet, in der Defensive zwischen den drei Phasen – ultraoffensivem Pressing, mittlerem Pressing und Besetzen des Raumes in der eigenen Hälfte – zu wechseln“, lobte der frühere Nationaltrainer Antonio Conte seinen Nachfolger. Conte stellt als höchste Qualität der aktuellen Truppe heraus, auf jede Situation mental und taktisch vorbereitet zu sein.
„Fahren wir einfach hin und gewinnen alle sieben Spiele“
Drei Jahre hatte Mancini Zeit, um seine Systeme einzuüben und die passenden Spieler zu finden. Ein paar der Älteren durften blieben, zum Beispiel das Innenverteidiger-Duo aus dem fast 37 Jahre alten Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci, 34. Die von seinen Vorgängern gern übersehenen Kreativkräfte Marco Verratti, Jorginho und Lorenzo Insigne wurden zu Pfeilern des Neuaufbaus.
Mancini war auch mutig genug, jungen Spielern Vertrauen zu schenken, als sie noch in Provinzklubs spielten. Barella, inzwischen Meister mit Inter Mailand und aus dem Mittelfeld nicht mehr wegzudenken, spielte bei der ersten Berufung noch bei Cagliari. Zur EM hat Mancini den 21 Jahre alten Mittelstürmer Giacomo Raspadori von Sassuolo Calcio mitgenommen, der im Vorrundenmatch gegen Wales zum Einsatz kam.
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Der Trainer selbst geht sogar so weit, keinen Unterschied zwischen Stammspielern und Ersatz zu machen. „Wir haben nicht eine erste Elf und die Ersatzspieler. Natürlich können nicht alle immer spielen. Aber wir brauchen alle, um immer frische Kräfte einsetzen zu können“, sagte Mancini nach dem mit 1:0 gegen Wales in der Vorrunde. Das Siegtor hatte Matteo Pessina erzielt, eine jener frischen Kräfte, von denen diese italienische Mannschaft derzeit so viele hat.
Ein Sieg im EM-Finale an diesem Sonntag gegen England wäre die logische Konsequenz dieser Entwicklung. „Fahren wir einfach hin und gewinnen alle sieben Spiele“, hatte Mancini vor dem Turnier gesagt. Manche lächelten damals, hielten es für Motivationsgeschwätz. Jetzt ist die Truppe nur noch ein Spiel von der Erfüllung des Spruchs entfernt. Tom Mustroph