Im Seelengefängnis
Eigentlich spielen sich die schrecklichen letzten Tage der Katja Kabanowa viel im Freien ab, im Dorf, auf der Straße, im Garten, dazu kommt der Tod in der Wolga.
Trotzdem haben Regisseure gerne zu Innenräumen gegriffen, um die die Ausweglosigkeit der Geschichte zu versinnbildlichen, die klaustrophobische Atmosphäre, in der dieses Leben gelebt werden muss: Christoph Marthaler 1998 in Salzburg, Michael Thalheimer 2005 an der Berliner Staatsoper, dort mit der kongenialen Idee, die verfügbare Spielfläche im Laufe des Abends immer kleiner werden zu lassen, bis nur noch der Sprung in den Orchestergraben bleibt.
Auch Regisseurin Jetske Mijnssen wählt an der Komischen Oper diesen Weg, zur Jubiläumsinszenierung von Leos Janáceks „Katja Kabanowa“ fast auf den Tag 100 Jahre nach der Uraufführung 1921 in Brünn. Eine Abfolge enger, hoher Räume (Bühnenbild: Julia Katharina Berndt) ist zu sehen, spießig, muffig, senfgelb, als blicke man ins Vorzimmer von Erich Mielkes Stasi-Zentrale.
Da sind riesige Türen, doch sie bleiben vorerst verschlossen. Die Räume wandern von links nach rechts und zurück, so dass man bald den Überblick verliert, wie viele es eigentlich sind, sie sehen auch alle gleich aus: Ein Seelengefängnis, in dem die lebensdurstige Katja die Tyrannei ihrer Schwiegermutter, der Kabanicha, ertragen muss – und die die Passivität, die nur sporadisch aufflackernde Aufmüpfigkeit ihres Gatten Tichon (Stephan Rügamer), der ganz unter Mutters Fuchtel steht.
Eine schrecklich nette Familie
Janáceks Vorlage, ein Schauspiel des russischen Dramatikers Aleksandr Ostrowski, ist in der tiefsten russischen Provinz des 19. Jahrhunderts angesiedelt und besitzt zum Glück einen weiten Sicherheitsabstand zur Lebensrealität vieler Frauen in westlichen Gesellschaften heute.
Mit Vorliebe seziert Mijnssen diese schreckliche nette Familie am Abendessenstisch, eine Situation, die traditionell mit Fettnäpfchen und Fallen gespickt ist.
Irgendwann öffnen sich auch die großen Türen, doch dahinter taucht wenig mehr auf als eine weitere Wand aus waberndem Nebel: Für Katja gibt es keine Hoffnung, nirgends. Szenisch ist das eindringlich und sehenswert.
Drei Frauen prägen diese Premiere: Neben der Regisseurin auch die Berliner Sopranistin Annette Dasch in der Titelrolle, die zugleich ihr Hausdebüt ist.
Die für Bayreuth erforderliche Stimmstärke kann sie hier gekonnt ablegen, findet zu leisen Tönen und schlüpft auch – soweit es der nicht dieser Sprache mächtige Rezensent beurteilen kann – erfolgreich ins für Janáceks Werke so wichtige Tschechisch.
Darstellerisch aber wären mehr Farben drin gewesen, diese Katja ist eigentlich von Anfang an immer diesselbe verzweifelte Frau, es fehlt an Zwischentönen, Glücksmomenten, kurz: an Fallhöhe.
Dass sie möglicherweise an ihrer Situation selbst nicht ganz unschuldig ist, dass sie an innerer Unfähigkeit scheitert, wie es die Regisseurin im Programmheft nahelegt: Das bleibt Behauptung, ist der Interpretation von Annette Dasch nicht anzumerken.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Einer der Höhepunkte ihres Auftritts ist ein stummer: Soeben hat sie den Ehebruch mit Boris (Magnus Vigilius) begangen, ein kurzer Moment des Ausbruchs und der Ekstase, den Janácek, der auch das Libretto verfasst hat, gar nicht direkt zeigt. Mijnssen lässt Dasch durch eine Tür treten, von hinten angestrahlt.
Dritte Frau des Abends ist die junge lettische Dirigentin Giedre Slekyte, die sich einer gewissen maßvollen Ausgeglichenheit verschrieben hat, sie glättet und puffert ab, scheint die grellen Spitzen und tiefen Schründe dieser dem Duktus des Tschechischen folgenden Partitur umschiffen, lindern zu wollen.
Damit bereitet sie den Boden für Rampensäue wie Jens Larsen, dessen mächtiger Bass genauso urkomisch wie furchteinflößend wirken kann und der damit jede Rolle prägt; hier singt er Boris’ diktatorischen Onkel, den Kaufmann Dikoj, der sich in punkto Sadismus auf Augenhöhe mit der Kabanicha befindet und deshalb nur folgerichtig mit ihr ins Bett (in dieser Inszenierung: auf den Tisch) steigt. In ihm ringt unbändige Kraft mit äußerster Angespanntheit, was sich äußerlich in einer Art watschelndem Pinguin-Gang entlädt.
Die Kabanicha ist die böseste aller Mütter
Die Kabanicha dürfte in der Opernliteratur auf der Skala der bösesten Mütter kurz hinter Strauss’ Klytämnestra rangieren. Doris Lamprecht verleiht ihr die Aura einer strengen Dorfschullehrerin, kontrolliert lauernd, jederzeit kann es aus ihr ausbrechen – dann spuckt sie etwa auf Katja, als diese ihrem Ehemann vor dessen Abreise einen letzten Kuss abringen will. Innerlich zerfressen ist sie vor unnötiger Eifersucht auf die Schwiegertochter.
Doch Regisseurin Mijnssen will zeigen, dass auch hinter dieser Fassade ein Mensch steckt, will differenzieren – und anders als bei Katja gelingt ihr das auch ein Stück weit. Gemäß Libretto dankt die Kabanicha nach Katjas Tod kaltherzig den Anwesenden, doch hier sieht man, dass es sie doch angreift, dass sie wankt, zusammenbricht. Nach kurzen Eindreiviertelstunden ist Schluss.
In „Katja Kabanowa“ hat Janácek das Geschehen aufs Wesentliche komprimiert, eine Oper wie ein Blitzschlag, wie Strauss’ „Elektra“, wie Puccinis „Tosca“.
In der Pandemie gibt es natürlich keine Premierenfeier, Intendant Barrie Kosky verlegt seine kurze Ansprache auf die Bühne, stellt den Abend gleich mal in die Tradition von Felsensteins Wahrhaftigkeitsanspruch. Und macht allen, auf der Bühne wie im Saal, Mut: „Ich weiß, wir werden wieder vollbesetzt sein, ohne Maske, PCR, Gurgeln, ohne Impf.“ Anders als in Wien, wo er kurz zuvor inszeniert hat, kann diese Aufführung in Berlin immerhin vor Publikum stattfinden.
Mal schauen, ob das auch für „Orpheus in der Unterwelt“ noch gilt. Premiere an der Komischen Oper ist am 7. Dezember.