Zeit des Vergessens
Eine Strichzeichnung ziert das Cover von Yvonne Zitzmanns Debütroman „Tage des Vergessens“: Paul Klees „Vergesslicher Engel“, entstanden zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, kurz vor dem Tod des Künstlers nach schwerer Krankheit. Die Zeichnung ist Teil einer Serie geflügelter Geschöpfe, die keineswegs vollkommen sind, sondern moralisch ambivalent – wie dieser Engel, der die Augen zu verschließen scheint vor einem unaussprechlichen Leid.
Moralische Ambivalenz, gepaart mit göttlichen Allmachtsfantasien, zeichnet auch die wohl charismatischste Nebenfigur in „Tage des Vergessens“ aus: Professor Julius Marx, der in einem verlassenen Sanatorium an einer Pille für gezieltes Vergessen tüftelt.
Ein Terrarium voll Mäuse
Marx selbst strahlt etwas latent Sinistres aus – mal wirkt er wie ein kauziger Anachronismus, der mit seinen Terrarien voller Mäuse unter dem Dach haust, mal wie ein abgebrühter Unternehmer. Die Weltverbesserungs-Rhetorik moderner Start-Ups beherrscht er perfekt: „Wir machen die Welt neu“ oder „Bald gibt es ein Leben nach Maß“ sind Sprüche, die sich sein Assistent Marian Wechsler bei jeder Gelegenheit anhören darf.
Wechsler, der Ich-Erzähler des Romans, steht dem Experiment eher skeptisch gegenüber. So hat Zitzmann zwei einander ergänzende Pole geschaffen, anhand derer sich das Für und Wider einer „Vergessenspille“ elegant erörtern lässt.
Dabei nehmen ihre theoretischen Debatten erfreulicherweise nur wenig Raum ein. Dringlichkeit und Schwierigkeiten des unbedingten Vergessenwollens zeigt die Autorin vielmehr vermittels der Lebensgeschichten von sieben Probanden, an denen Studienleiter Wechsler das Medikament testen soll.
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Indem sie Tag für Tag die Tonbandprotokolle ihrer sich verändernden Erinnerung wiedergibt, verleiht sie ihnen eine je eigene Stimme – ein Kunstgriff, der die Figuren mit ihren mal eher harmlosen, mal tief verstörenden Geschichten rasch charakterisiert.
In mehreren spielt der Verlust der Heimat eine Rolle: Die Sängerin Ulla, die in der DDR erfolgreich war und nun in ihrem Kopf Platz schaffen muss für „neue Lieder“. Oder der alte Genosse Helmut, der noch nie westdeutschen Boden betreten hat – ihn schickt seine Frau, die so gerne mal an die Côte d’Azur oder wenigstens in den Schwarzwald reisen würde.
Die wohl schmerzvollsten Geschichten erzählen Anton, ein KZ-Überlebender, der sich seit 73 Jahren für den Tod eines Mitgefangenen verantwortlich fühlt, und Malek, ein Flüchtling aus Syrien, der Frau und Kinder im Krieg verlor.
[Yvonne Zitzmann: Tage des Vergessens. Roman. Müry Salzmann Verlag, Salzburg/Wien. 288 Seiten, 24 €.]
Von schnoddrig-verächtlich bis blumig-poetisch beherrscht Zitzmann das gesamte Sprachregister ihrer so unterschiedlichen Erzählfiguren. Dabei steckt in diesem Buch viel DDR-Geschichte, wohl auch gespeist aus der Autobiografie Zitzmanns, die 1976 in Frankfurt an der Oder geboren wurde und heute in Rangsdorf bei Berlin lebt.
Im Nachwort verrät sie, dass die in „Tage des Vergessens“ geschilderte Studie auf in der DDR durchgeführten medizinischen Experimenten basiert. Schon erscheint sie einem nicht mehr ganz so sehr wie Science Fiction – und gerade dadurch umso verstörender.
Identität ist Konstruktion
Anhand der wilden Mischung aus privatem und kollektivem Leid in Wechslers Büro verhandelt Zitzmann nebenbei existenzielle Fragen rund um das menschliche Gedächtnis und die Konstruktion unserer Identität: Muss Ulla, um die Sehnsucht und den Schmerz loszuwerden, die in ihren alten Liedern stecken, auch die Erfahrungen vergessen, die diese Emotionen auslösten? Was würde passieren, wenn sie die Lieder später im Radio hört? „Wenn es aus deinem Kopf draußen ist, dann ist es immer noch nicht aus der Welt“, bemerkt Wechsler an einer Stelle.
Mehr als einmal beschleicht ihn die Ahnung, dass es unmöglich ist, ein einzelnes Ereignis sauber aus dem Gedächtnis zu „schneiden“, ohne dabei andere Bereiche irreparabel zu beschädigen. In diesem Sinne ähnelt das Vergessen jener Metapher, die assoziatives Erinnern mit einer Schüssel voller Angelhaken vergleicht, bei der jede Erinnerung unweigerlich eine neue mit sich bringt.
Und wenn der Aufseher nach der Pille fragt
Immer wieder klingt die Frage nach der eigenen Verantwortung und dem Lernen aus vergangenen Fehlern an – etwa wenn Professor Marx frohlockt, „bald könne jeder seine Geschichte neu schreiben“. Was, wenn statt eines KZ-Überlebenden ein ehemaliger KZ-Aufseher nach der „Pille des Vergessens“ verlangen würde, um sich auf so seiner Schuld zu entledigen?
Kurz gesagt: Bei der Lektüre fragt man sich oft, was diese Wissenschaftler alles nicht mit bedacht haben. Doch um ihre erschreckende Naivität, ihre grenzenlose Überheblichkeit geht es schließlich auch. Hätten sie die Werke von Gedächtnisforscher:innen wie Maurice Halbwachs, Aleida Assmann oder Harald Welzer gelesen, die das menschliche Erinnern in all seinen Facetten beleuchten, wäre die Idee einer „Vergessenspille“ schnell im Schrank verschwunden. Dann wäre allerdings auch dieses feine, empfindsame Buch nicht entstanden, das ganz locker ein hochkomplexes Thema behandelt und näher bringt.