Ich will jüdisches Leben erzählen, nicht erklären
Dana Vowinckels gibt es viele. Da ist die seriöse Frau, die neulich bei der Videolesung um den Klagenfurter Bachmannpreis mit hochgestecktem Haar und hochgeschlossener Bluse in sicher gesetztem Tempo ihren Romanauszug „Gewässer im Ziplock“ vortrug. Hinter sich ein Bücherregal, neben sich einen Bücherstapel, ganz als junge Intellektuelle inszeniert.
Da ist die Schwimmerin, die im Videoporträt, das jeder Lesung des wichtigsten Wettbewerbs der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vorausgeht, fröhlich die rot lackierten Füße über die blaue Bahnen des Prinzenbad streckt.
Und dazu darüber spricht, dass Schreiben für sie wie Atmen unter Wasser ist, nur um dann leichtgeschürzt, im gestreiften Badeanzug am Kotti herum zu marschieren. Eine offenherzige Geste, die sie von den Konkurrenten unterscheidet, die sich zugeknöpfter zeigen.
Ein Piercing, ein Ring mit einem Davidstern
Und da ist die Studentin mit der herzlichen Lache, die im Türrahmen ihrer Kreuzberger Wohnung steht und zum Gespräch in eine handtuchgroße Küche bittet. In der Nase ein Piercing, am Finger einen Ring verziert mit einem Davidstern. Und damit ist die Dana Vowinckel, die – live zugeschaltet – zu Beginn der Klagenfurter Jurydiskussion sorgenvoll wie ein bedröppeltes Kind schaut, noch nicht mal erwähnt.
Ebensowenig wie der zweite Platz, den sie als jüngste Newcomerin mit nur einer Stimme Rückstand auf die literarisch längst etablierte Bachmannpreis-Preisträgerin Nava Ebrahimi macht. Unter Lachen und Weinen gewinnt Dana Vowinckel für ihre multiperspektivische Erzählung um einen Berliner Kantor und seine 15-Jährige Tochter Margarita, die öde Sommerferien bei den Großeltern in Chicago verbringt, den Deutschlandfunkpreis. Immerhin dotiert mit einem Preisgeld von 12500 Euro.
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Die kommen aufs Sparkonto, wie sich das bei einer armen Studentin gehört, teilt die 25 Jahre alte Schriftstellerin mit, die noch immer angemessen perplex über die erfahrene Anerkennung ist. Im Wohnzimmer gegenüber wurde ihre Lesung aufgezeichnet.
Vom Bachmannpreis-Team ausgeleuchtet und dekoriert. Vowinckel war ganz froh darüber, pandemiebedingt im schützenden Rahmen der heimischen vier Wände ihre Autorinnenseele zu Markte tragen zu können. Denn nichts anderes ist die Klagenfurter Wörterschlacht, ein „Karrierekickstart“ in den Literaturbetrieb, für den Dana Vowinckel dankbar ist.
Zusehen, wie andere auf deinen Text reagieren
„Direkt davor war ich zum Kotzen aufgeregt“, grinst sie. Sogar übers Zurückziehen des vorab aufgezeichneten Textes habe sie am Vorabend des dritten Lesetages, an dem sie dran war, noch nachgedacht. Um dann live zugeschaltet den Juroren dabei zuzusehen, wie sie auf ihren Text reagieren.
„Ich nahm jedes Seufzen, jedes Stirnrunzeln war und dachte, okay, das wird ein Verriss.“ Doch das Gegenteil passiert. Das Lob über Vowinckels perspektivische Vielfalt, die erzählerische Dichte der geschilderten jüdischen Lebenswelten in Berlin, Chicago, Jerusalem, die starken Figuren und den sensualistischen Stil überwiegt deutlich die vereinzelte Kritik.
Judaika ohne Beipackzettel
Tatsächlich kontrastiert „Gewässer im Ziplock“ eine von ganz alltäglichen Teenagernöten erfüllte Mädchen-Subjektive mit dem Gemeindeleben, den religiösen Empfindungen und Vatergefühlen eines Kantors. Vowinckel beschreibt Liturgie, Gebete, Judaika, ohne einen Beipackzettel für jeden Begriff beizulegen. Das ist selbstbewusst.
Prompt fällt einem als Leserin auf, dass man die Sakralmöbel einer Kirche viel selbstverständlicher benennen kann als die einer Synagoge. „Ich will jüdisches Leben erzählen, nicht erklären“, sagt Dana Vowinckel, die sich als Teil jener jungen, internationalen jüdischen Szene sieht, die Berlin seit einigen Jahren auch kulturell aufmischt.
Postmigrantische jüdische Identität
Dazu passt, wie die Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Mara Delius („Die Welt“), die sie zusammen mit Verena Gotthardt für ihren Einstand als Jurorin zum Wettbewerb eingeladen hat, auf Vowinckel aufmerksam wurde. Durch einen Text in der von Yasemin Altinay verlegten „Literarische Diverse“ nämlich.
„Eine Zeitschrift mit dem Fokus auf Literatur von PoC-, queeren und migrantischen Leuten“, erläutert Vowinckel. Es existiere inzwischen ein Markt für junge diverse und junge jüdische Literatur. „Es gibt ein Interesse an jüdischen Stimmen, die ebenso wie ihre Protagonisten selbstverständlich jüdisch sind, und es gibt eine postmigrantische jüdische Identität.“
Sie selbst ist die Enkelin deutscher und russischer Großeltern, die in die USA emigrierten. Und die Tochter eines amerikanischen Literaturwissenschaftlers und einer deutschen Historikerin. Büchermenschen also?! Vowinckel nickt. Nach der Preisverleihung habe die beglückte, aber nicht überraschte Mutter sie angerufen und gesagt. „Du hast schon als Kind Wörter in den Mund genommen wie andere Kinder Bonbons.“
Geboren wurde Dana Vowinckel im Urban-Krankenhaus. Seither sei sie nicht wirklich aus Kreuzberg rausgekommen, scherzt sie. Sieht man mal von dem Jahr nach dem Abi ab, als sie in New York an einem Theater arbeitete und Studienorten wie Toulouse und Cambridge.
Im Oktober wechselt sie von der Linguistik zum Master Literarisches Schreiben am Leipziger Literaturinstitut. „Vollzeit schreiben ist für mich eine neue Lebensaussicht“, beschreibt sie ihre bisher nicht gerade stringent auf den Literaturnobelpreis ausgerichtete Karriereplanung.
Stadtschreiberin des Studierendenwerks
Trotzdem hat sie literarische Stationen absolviert. 2020 etwa war sie Stadtschreiberin des Studierendenwerks Berlin. Ein jährlich neu vergebener Posten, der den studentischen Nachwuchstalenten monatlich 360 Euro einbringt, wenn sie im flankierenden Blog regelmäßig Geschichte oder Gedichte über die Stadt veröffentlichen.
Im Pandemiejahr Stoff vor der Haustür zu finden, fiel Vowinckel nicht schwer. Die Großeltern in Chicago zu besuchen ging ja nicht. „Meine Berliner Community prägt mein Denken.“ Freundeskreise, Netzwerke, jüdische Gemeinschaft, da zöge sich die Stadt immer hindurch wie ein roter Faden.
Ich bin weder Aktivistin noch Sprecherin
Großartig Auskunft über ihre Religiosität, ihr Jüdischsein zu geben, fällt Dana Vowinckel nicht ein. Das ist ihr zu privat. „Ich bin keine Aktivistin, keine Sprecherin.“ Dass sie sich in der Gemeinde der Synagoge am Fraenkelufer engagiert, das erzählt sie begeistert und differenziert. Auf der Internetseite der Jüdischen Gemeinde wird das Gotteshaus als konservative Synagoge gelistet. In ihrer Kindheit sei die Synagoge leer gewesen, erinnert sich Vowinckel.
Inzwischen träfen sich dort regelmäßig Menschen aus der ganzen Welt zu riesigen Abendessen, die wie die Löwen für jüdisches Leben in Deutschland kämpften und auch für den Wiederaufbau der Synagoge. „Das finde ich sehr viel wichtiger als die Frage, ob die Leute am Schabbat mit dem Bus oder zu Fuß dorthin kommen.“ Offen ausgetragener Streit zwischen Fortschrittlichen und Konservativen gehöre in dieser wie in anderen Gemeinden ganz selbstverständlich dazu. „Das schätze ich so am Judentum.“
[Vowinckels Klagenfurt-Text „Gewässer im Ziplock“ lässt sich auf der Seite des Bachmannpreises nachlesen: bachmannpreis.orf.at, unter Stichwort Autor/innen.]
Und da sind wir auch schon bei dem Missverständnis des Klagenfurt-Jurors Klaus Kastberger, das sogar den Weg in Nachrichtenagenturen fand. Und zu dem Dana Vowinckel sich inzwischen auch mit einem Text auf ihrer Webseite äußert. Der Annahme nämlich, dass ihr Protagonist, der Kantor, ein orthodoxer Jude sein müsse.
Kastberger merkte an, wie sich auf der Bachmannpreis-Seite zusammen mit allen anderen Videos anschauen lässt, dass der Blick auf orthodoxes jüdisches Leben in letzter Zeit durch Bücher und Serien wie „Unorthodox“ und „Shtisel“ in Mode gekommen sei. Und vermisste bei Vowinckel die kritische Reflexion.
Weil jemand gläubig ist, ist er nicht gefangen
„Nur weil jemand tief gläubig ist, heißt es ja nicht, dass jemand in einem Kerker- oder Zwangssystem gefangen ist“, sagt Dana Vowinckel dazu. Orthodox sei nicht dasselbe wie ultra-orthodox. Es gebe jüdisches Leben jenseits von „Unorthodox“. Nur werde es nicht zu einem popkulturellen Phänomen auf Netflix.
Ihr Kantor im Text könne tief gläubig sein und trotzdem offene Ansichten haben. „Das ist ein Missverständnis im abgefeierten Atheismus unserer Zeit.“ Letzterer gelte in linksliberalen, gebildeten Kreisen häufig als moralisch überlegen. „Aber mir ist wichtig, dass es gläubige Menschen gibt, die trotzdem in wissenschaftliche Fakten vertrauen und liberalen Weltbildern folgen.“
Auf ihrer Website nimmt sie Stellung
Auf ihrer Webseite schreibt sie, das einzige, was an ihrer Geschichte radikal sei, sei die Vorstellung, sie beim Bachmannwettbewerb vorzutragen. „Um an einem Schabbat einen Text im Fernsehen diskutieren zu lassen, in dem die Sexualität einer Fünfzehnjährigen thematisiert wird und vor laufender Kamera im Badeanzug über den Kotti zu laufen, musste ich mich nicht aus den Zwängen meiner Religion befreien.“
Und schon gar nicht, um den Sommer über an ihrem Roman weiter zu schreiben, worauf sich Dana Vowinckel freut. Man muss in keiner Religion Prophetin sein, um vorherzusagen, dass Margarita und der Kantor bei einem Verlag unterkommen werden.