Komische Oper Berlin: Der Schnee, so weich
Zum Start ihrer Intendanz an der Komischen Oper haben Susanne Moser und Philip Bröking keinen Stuhl neben dem anderen gelassen: Während der Sommerpause wurde das komplette Parkett ausgebaut – um Platz zu schaffen für eine raumgreifende Installation: Bühnenbildner Marton Agh hat den Saal in eine Eiswüste verwandelt, bis zum zweiten Rang hoch ziehen sich weiße Stoffbahnen, darüber ist das Orchester platziert. Das Publikum dagegen belegt die Bühne, wo steil ansteigende Bankreihen installiert sind, sowie den 1. Rang und die Plätze rund um die Spielfläche.
Doppelspitze entfernt Zuschauersitze: Etwas Spektakuläres wollten Barrie Koskys Nachfolgerin und Nachfolger zum Saisonauftakt bieten. Und gleichzeitig einen Vorgeschmack geben auf die Zeit ab dem Herbst 2023, wenn die Komische Oper an ungewöhnlichen Orten in der ganzen Stadt auftreten will, während ihr Stammhaus saniert und erweitert wird. Auf Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ fiel die Wahl, auf ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, uraufgeführt vor 61 Jahren in Venedig, mit dem der Komponist der damals üblichen Form der Literaturoper etwas Innovatives entgegensetzen wollte.
Er verzichtet weitgehend auf Handlung, bietet dafür ein Kaleidoskop des real existierenden Schreckens seiner Zeit. Ein Gastarbeiter, den es zurück in die Heimat zieht, erlebt ein Grubenunglück in Belgien, französische Folter in Algerien, eine Flutkatastrophe am Fluss Po. Die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung ist Thema, ebenso der Widerstand gegen den spanischen Diktator Franco.
Zu sehen ist von all dem Leid aber nichts an diesem Abend. Der Bühnenschnee behält über die 80 Minuten Spieldauer seine Reinheit, kein Blut besudelt ihn, keine Spuren von Umweltzerstörung färben ihn schmutzig grau. Zudem scheint er temperaturlos zu sein, die Darsteller:innen bewegen sich auf ihm nämlich, als wär’s ein Flokati. Wer auf dem Weg zu seinem Sitzplatz im Vorbeigehen mit der Hand darüberfährt, stellt fest: Dieser Schnee ist schön flauschig.
Das ganze Setting wirkt poetisch, ja märchenhaft. Eine Weihnachtsproduktion für Kinder könnte hier stattfinden oder auch eine romantische Belcanto- Oper. Und tatsächlich geht Regisseur Marco Storman konsequent allem optisch Verstörenden aus dem Weg. Sein Protagonist – der Tenor Sean Panikkar, der sich stimmlich so geschmeidig bewegt wie körperlich – scheint eine Art Traumwandler zu sein, der sich somnambul durch die weißen Weiten bewegt, aus hölzernen Bruchstücken ein Symbol- Boot zusammenfügt, für sich und seine schwarzgefiederte Gefährtin.
Die Hauptperson des Abends ist: der Chor
Deniz Uzun spielt die so hüpffreudig, als wäre sie die Papagena aus der „Zauberflöte“, und lässt dabei ihre Koloraturen glitzern wie Eiskristalle in der Sonne. Das Weiteren treten auf: die Schauspielerin Ilse Ritter, die ihre Texte gefasst vorträgt, Gloria Rehm in einer Schneeköniginnenrobe, Tom Erik Lie und Tijl Faveyts als „der Algerier“ und „der Gefolterte“, die rituell anmutende Handlungen absolvieren und darum vor allem Stimme bleiben, und – als Hauptpersonen des Abends – die Chorsolisten der Komischen Oper, verstärkt um das Vocalconsort Berlin.
David Cavelius hat sie musikalisch vorbereitet auf ihre komplexen Aufgaben, die vom Flüstern bis zum Schrei jede nur erdenkliche Art der akustischen Entäußerung umfasst. Genauso anspruchsvoll ist die Bewegungschoreografie, die Marco Storman ihnen zugedacht hat – und die virtuos umsetzen, weil sie in den Kollektivszenen immer eine Gruppe von Individuen bleiben, weil jede und jeder in der Masse als Mensch zu erkennen ist.
Und von oben, quasi als Himmelsmusik, tönt dazu das Orchester, riesig besetzt mit zwölf Schlagzeuger:innen, Harfe und Celesta zusätzlich zur traditionellen Sinfonieorchesterstärke. Auf Bildschirmen, die an der Balkonbrüstung befestigt sind, kann man mitverfolgen, wie Dirigent Gabriel Feltz mit weit ausgreifender, überdeutlicher Gestik das Geschehen quer durch den Luftraum koordiniert.
Sehr souverän wirkt das – und viel weniger provokant als erwartet klingt für den Hörer des Jahres 2022 auch Luigi Nonos zwölftönige Avantgardepartitur. In den Werken des Italieners sind es stets die leisen, intimen Momente, die die stärkste Kraft entfalten, doch bei der „Intolleranza“-Premiere am Samstag wirken selbst die dissonanten Ausbrüche, die extremen Lautstärkeeruptionen ästhetisch schlüssig, ja geradezu schön. So wie auch die ganze Optik der Inszenierung in ihrer weißen Wattigkeit.
Das sind nicht die Assoziationen, die der kommunistische Komponist einst beabsichtigt hatte, der engagierte Zeitgenosse Nono, der die Oper zur Arbeiterklasse bringen und mit Kunst das Bewusstsein verändern wollte. Aber es zeigt doch, wie wichtig es ist, Meisterwerke der Vergangenheit immer wieder neu zu befragen, ganz besonders jene, deren Uraufführung noch nicht so lange zurückliegt, dass sich niemand mehr an den historischen Kontext erinnern kann. Weil die wirklich bedeutenden Stücke nicht veralten, sondern mit der verstreichenden Zeit selbst weiterwachsen.
Weitere Aufführungen nur noch am 25., 27. und 29. September sowie 1. und 3. Oktober.
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