Sechs Erkenntnisse dieser EM, die bleiben werden

Was von dieser EM bleibt und was kommt. Eine persönliche Bilanz dieser Fußball-Europameisterschaft.

1. Die Reisen

Immer noch tobt die Pandemie durch den Kontinent. Musste es da unbedingt sein, dass 24 Mannschaften durch zehn Länder gereist sind? Teilweise mit absurden Ansetzungen: In der Gruppe E wurden die Spiele dieser Europameisterschaft in St. Petersburg und Sevilla ausgetragen, beide Städte trennen 4500 Kilometer.

Ja sogar bis Aserbaidschan fuhren sie, die möglichen Superspreader in kurzen Hosen und ihr Anhang. Baku war auch ein Austragungsort und nicht mal in Europa. Der andere Spielort in dieser Gruppe war, logisch – Rom. Die Uefa verkaufte so einen Reisewahnsinn als völkerverbindend, Anhänger*innen des Klimaschutzes und der Pandemiebekämpfung sehen es anders.

2. Der Videobeweis

Das hat geklappt. Fast jedenfalls. Die Gerechtigkeit im Spiel hat gesiegt – falsche Abseitsentscheidungen gab es nicht. Dafür nahm man gern in Kauf, dass nach Treffern oft eher fragend gejubelt wurde. Dafür hoben die Schützen dann zwei Mal die Arme, wenn das Tor dann doch galt. Und trotzdem war die Macht der Bilder eingeschränkt, Englands geschenkter Elfmeter im Halbfinale gegen Dänemark ist das beste Beispiel.

Die Bilder entlarvten Raheem Sterling mit seiner Schwalbe, die Interpretation der Bilder durch die Menschen gaben ihm wieder recht. Und was folgte, war etwas, das den Fußball immer ausgemacht hat: Ellenlange Diskussionen um einen fragwürdigen Strafstoß. Und natürlich: Würden wir alle in der S-Bahn bei so einem Rempler umfallen, wie er Sterling widerfuhr, wir lägen alle nur noch auf dem Boden.

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3. Die Zukunft

Der Veranstalter der kommenden Weltmeisterschaft lugte mit omnipräsentem Werbelogo für seine Luftlinie schon mal frech um die Ecke. Auch die Chinesen, mehr oder weniger mit drei großen Sponsoren am Start, waren mit von der Partie.

Laut der „Süddeutschen Zeitung“ erwägt nun der DFB ernsthaft, mit den „Qatar Airways“ als Sponsor anzubändeln. Geschäfte mit einem Staat, in dem Menschenrechte mit Füßen getreten werden, mit einem Staat, in dem – jede Wette – Ende kommenden Jahres beim WM-Turnier nicht die Stadien in den Regenbogenfarben leuchten werden. In Katar sind sexuelle Handlungen unter Gleichgeschlechtlichen verboten und werden mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft.

Ohne Frage ist das alles menschenverachtend, aber es ist ebenso verlogen, nur Katar anzuprangern. Unser Leben in der westlichen Welt basiert auch darauf, andere auszunutzen, ihr Geld oder günstige Ressourcen zu nutzen.

Wer kann schon von sich behaupten, dass er oder sie keine Produkte aus Ländern trägt, die auf Billiglohnniveau herstellen? Die Kicker machen das auch nicht, sie haben im Turnier gegen den Ball einer Firma getreten, die angeblich vor allem im Thailand produzieren lässt – die Arbeiter*innen dort bekommen 200 Euro Lohn im Monat. Der Fußball ist nur ein Teil dieser verlogenen Gesellschaft, auch wenn die Uefa (und vielleicht auch die Spitze des DFB), eine ihrer Speerspitzen sein muss.

4. Die Verantwortung

Einige Mannschaften gingen vor ihren Spielen in die Knie, auch Schiedsrichter und Assistenten waren zum Teil dabei. Das Zeichen gegen Rassismus kam an und zeugt davon, dass Sport nicht unpolitisch sein muss. Das Thema bleibt aber belastet von Widersprüchen: Manuel Neuer trug seine Regenbogenbinde als deutscher Kapitän, in seinem Klub Bayern München trägt er das Signet von Sponsor „Qatar Airways“ auf dem Trikot.

5. Die Systeme

Selten wurde so viel über Abwehrketten debattiert wie bei dieser EM, eine fortschreitende Entwicklung in der Betrachtung des Profifußballs, dessen System mehr seziert wird denn je. Wohl auch daher bleibt immer weniger Platz für die Betrachtung der Stars, die bekanntesten von ihnen sind doch reichlich in die Jahre gekommen.

[Mehr zum Thema: Katastrophe nach dem Abpfiff? Wie die EM Corona wieder entfesselt (T+)]

Logisch gab es einige Megatalente, allen voran den Spanier Pedri. Mit nur 18 Jahren überzeugte der junge Mann vom FC Barcelona mit enormer Laufleistung, Intelligenz im Spiel und Pässen, die quasi immer ankamen. Der Mann des Turniers war aber zweifellos Dänemarks Kapitän Simon Kjaer, der seinem Teamkollegen Christian Eriksen nach dessen Zusammenbruch im Siel gegen Finnland schnell zur Hilfe eilte und damit wohl Schlimmeres verhinderte.

6. Der Abschied

Es war ein trauriger Abschied mit Ansage, aber trotzdem ein ziemlich normaler Abschied für einen Sportler oder Sportfunktionär. Viele schaffen es eben nicht, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere zurückzutreten – weil sie am Höhepunkt ihrer Karriere nicht ahnen wollen, dass sie schon am Höhepunkt ihrer Karriere sind.

Joachim Löw reiht sich hier auf ganz hohem Niveau in die Riege der am Ende Enttäuschenden ein. Es muss aber nichts heißen für die Zukunft. In ein paar Jahren, wenn er dann seinen Espresso in der Fußgängerzone von Freiburg genießt, wird er vor allem der ehemalige Bundestrainer sein, der Deutschland zu einem Weltmeistertitel geführt hat. Wer redet denn heute noch davon, dass Sepp Herberger nach dem WM-Titelgewinn 1954 bei den Turnieren 1958 und 1962 mit seiner Mannschaft enttäuschte? Brasilien 2014 wird bleiben, das gehört Joachim Löw.