Vordenker der Nation: Pasolini oder: Ein Heutiger wird hundert

Im abgedunkelten Raum ist nichts als das harte Fernlicht der Scheinwerfer zu erkennen. Erst wenn sie auf Abblendlicht umschalten, wird der Wagen hinter den Lichtkegeln sichtbar. “Alfa Romeo GT veloce” heißt ganz schlicht die Installation der römischen Künstlerin Elisabetta Benassi. Pier Paolo Pasolini besaß einen Wagen dieses Typs und von gleichem Silbergrau.

Er steuerte ihn, kurz bevor er in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1975 in Ostia bei Rom ermordet wurde. Der Wagen, den Benassi als eine Art Zeitmaschine verstanden wissen will, die aus den 1970er Jahren ins heutige Italien führt, ist ein Statement über dieses Statement hinaus: Sein Licht, das Licht Pasolinis, leuchtet weiter in der Dunkelheit. Der Denker als Seher.

Eine unübersehbare Zahl von Ausstellungen, Performances, Diskussionen  und Werkschauen seiner Filme widmet sich derzeit in Italien, zu seinem 100. Geburtstag, dem Dichter,  Regisseur, Romancier Pasolini. Er gilt auch fast ein halbes Jahrhundert nach seinem gewaltsamen Tod, dessen Umstände bis heute nicht restlos geklärt sind, noch als wichtigster Intellektueller des Landes in der Nachkriegszeit.

Die drei Körper des Dichters

Das Maxxi, Roms noch junges, erst 2009 eingeweihtes Museum für Kunst des XXI. Jahrhunderts, hat seinen  Rück- und Ausblick  dem politischen Pasolini gewidmet und kooperiert unter dem gemeinsamen Titel “Tutto è santo” (Alles ist heilig) mit zwei anderen Ausstellungsorten der Stadt, dem Palazzo delle Esposizioni und den Gallerie Barberini Corsini, die den Dichter und eben Pasolini als Seher zum Thema haben.

In seinen kühnen, großzügigen Räumen, einem Bau von Zaha Hadid wenige Tramstationen von der zentralen Piazza del Popolo entfernt, präsentiert das Maxxi etwa 200 Originaldokumente, Zeitungsartikel, Briefe, Manuskripte, Notizen und Interviews von Pasolini.

Pasolinis Apotheose in den drei Schwesterschauen ist bereits im Titel „Tutto è santo“ offensichtlich, einem Zitat des Weisen Chiron aus Pasolinis 1969 gedrehtem Film “Medea” mit Maria Callas in der Titelrolle. Die jeweiligen Untertitel – “der politische Körper”, der “poetische” und der “prophetische” – greifen nach Aussage der Austellungsmacher:innen die zentrale Rolle auf, die Körperlichkeit im Denken Pier Paolo Pasolinis einnahm.

König, Heiliger, Seher

Sie laden sie aber auch mit einem Mehr an Bedeutung auf, ob gewollt oder nicht. Fast zwangsläufig ist die Assoziation der verschiedenen Körper des Königs, denen Ernst Kantorowicz’ berühmte “Studie zur politischen Theologie des Mittelalters”galt.

König, Heiliger, Seher – beim nüchterneren Publikum könnte die keineswegs subtile Verklärung Stirnrunzeln provozieren. Doch die Ausstellung im Maxxi belegt jedenfalls die Behauptung zu Pasolini als Analytiker seiner Zeit erstaunlich gut. Die Schau habe für ihn fast etwas Monströses, bekannte der Kunsthistoriker und Sammler Giuseppe Garrera bei deren Eröffnung kürzlich.

Wir haben das Jahr 1975 gewählt, nicht seines Todes wegen, sondern weil es ein Jahr höchster Produktivität für Pasolini war. 

Giovanna Melandri, Chefin des Museums Maxxi

Pasolini klage die Übergriffe der Macht und den Konsumismus an, er spreche von Gewalt und Zerstörung. “Man fühlt sich nicht im Jahr 1975, sondern im Jahr 2022.” Garrera zitierte Pasolinis Worte im letzten Interview, das er wenige Stunden vor seinem Tod gab.

„Wir sind alle in Gefahr“

Marzia Migliora, eine der 19 Künstlerinnen und Künstler, deren Werke sich im Maxxi – in unterschiedlicher Qualität – mit Pasolini auseinandersetzen, hat einen offenen Raum des Museums in großen Stahllettern mit diesen beiden Sätzen beschrieben: “Vielleicht bin ja ich es, der sich irrt. Aber ich höre nicht auf zu sagen, dass wir alle in Gefahr sind.”

Für ihren Blick auf den politischen Pasolini haben die Kuratoren Hou Hanru, Bartolomeo Pietromarchi und Giulia Ferracci einen Kunstgriff angewendet – die Beschränkung auf das Jahr 1975. Es sei eben nicht nur das Jahr seines Todes gewesen, sondern das Jahr einer besonders großen, ja ruhelosen Arbeit an Texten, Filmen, in öffentlichen Stellungnahmen, so die scheidende Präsidentin des Maxxi, Giovanna Melandri.

Die Auswahl sei bei diesem Thema die eigentliche Anstrengung gewesen, ergänzte Pietromarchi. Sich auf dieses Jahr zu konzentrieren, habe es aber auch von jener fatalen Nacht zum 2. November lösen wollen: “Sein Tod hat dieses Jahr monopolisiert, aber er spricht dort zu unserer Gegenwart.”

Das Ende der Glühwürmchen

Pasolinis Jahr 1975, das sind sein letzter Film “Salò oder die 120 Tage von Sodom”, die Arbeit an “Petrolio” (Erdöl), seinem als Opus magnum angekündigten und als Bruckstück hinterlassenen Roman, seine zahllosen Wortmeldungen, meist im Corriere della sera oder im Fernsehen, auf dem Höhepunkt der Bewegung für das Recht auf Abtreibung, zu Korruption und Umweltzerstörung.

„Alfa Romeo GT veloce“ heißt die Installation von Elisbetta Benassi, eines der Kunstwerke, die die Schau über Pasolini im Maxxi begleiten. Einen Wagen dieses Typs fuhr er nach Ostia, wo er wenig später in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1975 ermordet wurde.
„Alfa Romeo GT veloce“ heißt die Installation von Elisbetta Benassi, eines der Kunstwerke, die die Schau über Pasolini im Maxxi begleiten. Einen Wagen dieses Typs fuhr er nach Ostia, wo er wenig später in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1975 ermordet wurde.
© Maxxi

Berühmt der Glühwürmchen-Text im Februar jenes Jahres, wo er am Beispiel der “lucciole” die Luft- und Wasserverschmutzung vor allem auf dem Land anklagt: “Nach ein paar Jahren gab es keine Glühwürmchen mehr.”

“Die einzige Art der Erinnerung an Pasolini ist nicht, ihn zu feiern, sondern ihn zu lesen und über ihn so zu diskutieren, als lebte er noch.

Roberto Roversi, Freund Pasolinis, im Nachruf 1975

In einem Beitrag zum informativen Ausstellungskatalog, der im Mailänder Kunstverlag “5 continents editions” erschienen ist, lässt Marco Belpoliti die Zeit draußen Revue passieren: Neben den Debatten ums Recht der Frauen, sich gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden, erlebt Italien 1975 eine Welle tödlicher politischer Gewalt. Morde an Aktivisten von rechts und links oder wer dafür gehalten wird, sind alltäglich.

Als die KP den „Historischen Kompromiss“ erfand

Die Inflation steigt auf über 17 Prozent, und bei den Kommunalwahlen erreichen die Ergebnisse der Kommunistischen Partei beinahe die der Democrazia cristiana. KP-Chef Enrico Berlinguer schwor im März 1975 die Seinen auf das ein, was wenig später “historischer Kompromiss” hieß: Ein Zugehen auf alle demokratischen Parteien, vor allem die DC, um Italiens Demokratie zu retten.

Es lohnt die Zeit, die vergilbten Zeitungsseiten und PPPs Schreibmaschinenmanuskripte zu studieren – ausreichend Italienisch vorausgesetzt – um zu erschrecken: Die Enkel derer, die sich nostalgisch auf Salò beriefen, Mussolinis grausame letzte Marionettenrepublik, sind seit zwei Monaten wieder in Rom an der Regierung, die Regionen, die schon länger unter ihrer Führung sind, schränken das Recht auf Schwangerschaftsabbruch wieder ein, das 1978 in Italien Gesetz wurde.

Pasolini 1974 in Torre di Chia nahe Viterbo, wo er zuletzt wohnte und arbeitete.
Pasolini 1974 in Torre di Chia nahe Viterbo, wo er zuletzt wohnte und arbeitete.
© Archivio Cinemazero Images, Pordenone

Und auf Ischia starben dieser Tage Menschen nach massiven Regenfällen, Opfer eines fatalen Zusammenspiels von Klimawandel und illegalem Bauen in Landschaften, deren Widerstandskraft gegen Wetterextreme unterm Beton der Schwarzbauten bereits gebrochen war.

Der Traum vom unschuldigen Land

Eine Chance allerdings blieb in den römischen Ausstellungen ungenutzt. Kritische Auseinandersetzung mit dem monstre sacré Pasolini findet nicht statt. Dabei drängt sie sich an mehr als einer Stelle geradezu auf. Über seine Verklärung eines vorgeblich ursprünglichen Zustands der italienischen Landschaft zum Beispiel hätte sich die Auseinandersetzung gelohnt.

Das bäuerliche Italien, jenes Friaul, das Pasolini pries, stolperte in Wirklichkeit bitterarm und in vieler, auch kultureller Weise in großem Elend aus dem Königreich Italien in die Nachkriegsrepublik, um es dort erst einmal zu bleiben. Genauso wie Italiens Süden und sogar die späteren italienischen Lieblingslandschaften von europäischen und globalen Toskanafraktion.

1922

Hundert Jahre danach hat Italien gleich mehrfach Grund zu gedenken – zweier prägender Persönlichkeiten und eines dramatischen Abschnitts seiner Geschichte. Ende Oktober 1922 übernahm Benito Mussolini die Macht; der Beginn des ventennio, der 20 Jahre faschistischer Herrschaft in Italien und den als Kolonien unterworfenen Gebieten – der Beginn des Faschismus in Europa überhaupt. In diesem Jahr wurde aber auch Pier Paolo Pasolini geboren und Enrico Berlinguer, der vielleicht bedeutendste Vorsitzende der italienischen Kommunistischen Partei. Berlinguer, der 1984 starb, war Vordenker und Architekt ihres Ausgleichs mit der Christdemokratie, des compromesso storico.

Auch die Selbststilisierung seiner, des Bürgersohns, Nähe zum gemeinen Volk hätte etwas Gegenlicht verdient, wie auch seine Verachtung für alles Bürgerliche – was ihn nicht hinderte, seine Abende gern in den Salons der römischen Bourgeoisie zu verbringen.

Oder PPPs Vorliebe für seine ragazzi di vita, die Jungen aus dem Subproletariat der borgate, der Vorstädte. Zu Lebzeiten machte seine selbstbewusst gelebte Homosexualität Pasolini zu einer Un- und Hassfigur des bürgerlichen Establishments, ja zu einem Gehetzten.

In der Ausstellung zum “poetischen” Körper des Dichters braucht es eine ganze Hallenwand des Palazzo delle Esposizioni für die Liste der zig Prozesse wegen Sittendelikten oder Pornografie, mit denen man ihn lebenslang überzog.

Der Großintellektuelle und die Vorstadtjungs

Eine ebenso erschreckende wie sprechende Installation. Nicht zufällig sprach das ihm gewogene Italien nach Pasolinis Tod in Ostia davon, dass man ihn bereits vor dem 2. November 1975 umgebracht habe.

Dennoch lassen sich die ungleichen Beziehungen, die der Großintellektuelle zu den – auch minderjährigen? – Kindern der römischen borgate pflegte, gerade einem heutigen Publikum nicht so schweigsam präsentieren, wie die Ausstellung das tut.

Schade auch um zeitgenössische Kritik, der man in der Jubiläums-Ausstellung höchstens am Rande begegnet. Anders als die – beeindruckend vor allem im Palaexpo – breit dokumentierte Häme und Wut seiner ultrakatholischen und postfaschistischen Feind:innen zielte nicht jede Gegenposition auf die Vernichtung der Person Pasolini ab:

Pasolini als Abtreibungsgegner

Pasolinis Text im Corriere della sera “Ich bin gegen Abtreibung” wurde 1975 unter anderem von Umberto Eco spöttisch auf die Schippe genommen. Auch Freundinnen und Kollegen wie Dacia Maraini und Alberto Moravia kritisierten ihn. Der Dichter hatte es nicht beim persönlichen Bekenntnis belassen – übrigens mit interessanten feministischen Bemerkungen zum heterosexuellen Geschlechtsverkehr als Kern der Frage -, sondern sich explizit gegen ein liberales Abtreibungsgesetz gewandt.

So bleibt bei allem Anregenden dieser römischen Würdigung der Eindruck: Wo „tutto è santo“, wo alles heilig ist, könnte Kritik schon nah an Gotteslästerung sein. Damit geben die Austellungsmacher:innen aber den eigenen Anspruch auf, den sie mit Berufung auf einen engen Freund Pasolinis erheben – Giulia Ferracci zitiert ihn in ihrem Beitrag im Katalog.

In seinem Nachruf auf den Kollegen und Freund unter dem Titel “Pasolini lebt!” schrieb Roberto Roversi am 4. November 1975 in der kommunistischen Tageszeitung “L’Unità”: “Die einzige Art der Erinnerung an Pasolini ist nicht, ihn zu feiern, sondern ihn zu lesen und über ihn weiter so zu diskutieren, als lebte er noch.”

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