Vereint in Schmerz und Hoffnung

Ukrainische Flaggen sind im Stadtbild von Sarajevo derzeit nur vereinzelt zu entdecken. Die Deutsche Botschaft stellt mit ihren beiden Exemplaren eine Ausnahme dar.

Aber auch ohne dieses Zeichen wissen die Menschen hier – wahrscheinlich besser als in jeder anderen europäischen Hauptstadt – was es bedeutet, von einem Nachbarstaat angegriffen zu werden, der angeblich eine Brudernation ist. Der Beginn der vierjährigen Belagerung Sarajevos durch bosnische Serben ist 30 Jahre her, viele Bewohner*innen erinnern noch wie täglich Granaten und Sniperprojektile auf sie abgefeuert wurden.

Regisseur Maksym Nakonechnyi kam aus Kiew nach Sarajevo

Die aktuellen Bilder aus der Ukraine von zerbombten Hochhäusern und Toten auf den Straßen wirken wie eine grauenvolle Reprise der damaligen Szenerie in Sarajevo sowie im Rest von Bosnien und Herzegowina. Wobei es einen entscheidenden Unterschied gibt: Das Balkanland erhielt aufgrund eines Embargos lange keine internationalen Waffenlieferungen, es musste seine Verteidigung allein organisieren.

Das Filmfestival von Sarajevo wurde 1994 noch während der Belagerung gegründet. Geleitet hat es seither Mirsad Purivatra, der den Direktorenposten im Februar an den 1980 geborenen Jovan Marjanović übergab. Einige Wochen später kündigte das Festival an, seine sonst auf Südosteuropa fokussierten Programme für Werke aus der Ukraine zu öffnen.

Eine gute Entscheidung, die unter anderem dazu führte, dass an einem heißen Augustnachmittag Maksym Nakonechnyi auf der Bühne des Nationaltheaters von Sarajevo steht, um über sein Spielfilmdebüt „Butterfly Vision“ zu sprechen.

Gleich zu Beginn betont der Regisseur aus Kiew, der ein Tattoo mit dem ukrainischen Dreizack-Wappen auf dem Unterarm trägt, dass es ihm aufgrund der derzeitigen Parallelität der bosnischen und der ukrainischen Geschichte viel bedeute, seinen Film hier zu zeigen. „Es ist ein Privileg, dass ich mit ihm reisen kann“, sagt er im Hinblick auf das Ausreiseverbot für Männer im wehrfähigen Alter und verweist auf die Mitglieder seiner Crew, die derzeit in militärischen Einheiten kämpfen.

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Damit sind sie zu realen Quasi-Kamerad*innen der Hauptfigur von „Butterfly Vision“ geworden: Lilia (Rita Burkovska) hat als Drohnenpilotin im Donbass gedient und kommt nach Monaten in russischer Gefangenschaft zurück nach Hause. Neben den großen Narben auf ihrem Körper zeugen auch kurze Erinnerungssequenzen, Traumbilder und Drohnenaufnahmen davon, dass sie Schreckliches erlebt hat. Nakonechnyi verwebt die verschiedenen Medien auf äußerst suggestive Weise und erschafft auch Dank des intensiven Spiels von Rita Burkovska eine beeindruckende Annäherung an die Innenwelt einer von ihren Kriegserlebnissen überwältigten Frau, der es trotz allem gelingt ihre Individualität zu verteidigen.

Dasselbe gilt für die hochschwangere Irka (Oksana Cherkashyna) aus Maryna Er Gorbachs Donbass-Drama „Klondike“, das im Februar im Berlinale-Panorama zu sehen war und nun im Wettbewerb des 28. Sarajevo Film Festivals lief. In einer der ersten Szenen wird das Haus von Irka und ihrem Mann Tolik (Sergey Shadrin) von einer Rakete der Separatisten schwer beschädigt. Anschließend spiegelt sich der Kampf, der rund um ihr Dorf stattfindet im Leben der Eheleute. Maryna Er Gorbach inszeniert die Geschichte in ruhigen Einstellungen, wobei es ihr sogar gelingt, den Abschuss einer Malaysia-Airlines-Maschine über dem Gebiet glaubhaft in die Handlung zu integrieren.

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Bei der Vorstellung von „Klondike“ im Nationaltheater sagt die Regisseurin und Drehbuchautorin, dass dieser Juli-Tag im Jahr 2014 – zugleich ihr 33. Geburtstag – einer der Gründe für sie war, den Film zu drehen. „Eigentlich hatte ich gedacht, dass dieses Ereignis die internationale Gemeinschaft aufrütteln würde“, sagt sie. Da das jedoch nicht geschehen sei, machte sie sich selbst an die Arbeit – obwohl sie das Gefühl gehabt habe, damit schon viel zu spät dran zu sein.

In der Tat erfolgte der umfassende Angriffskrieg Russlands nur wenige Monate nach Fertigstellung ihres Spielfilms, was dessen Wirkmacht aber keineswegs schmälert – im Gegenteil: „Klondike“ hilft dabei, zu verstehen, was die Menschen in der Ostukraine seit acht Jahren durchmachen. Ein emotionaler Zugang, den Nachrichtenbilder nicht ermöglichen.

Oksana Cherkashyna in Maryna Er Gorbachs Film “Klondike”.Foto: Festival

Maryna Er Gorbach wurde von der Jury um den österreichischen Regisseur Sebastian Meise („Große Freiheit“) mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Sichtlich bewegt nahm sie bei der Abschlussgala die Trophäe in Form eines geschmiedeten Herzens entgegen, der sie später ihr blau-gelbes Armband umlegte. „Es ist der glücklichste Preis, denn wir präsentieren den Film in einer Stadt, die uns zeigt, dass das Leben nach dem Krieg weitergeht“, sagte sie gegenüber dem Fernsehsender BHT1. Das gebe ihr Hoffnung, genau wie die Solidarität, die sie hier erfahren habe.

Eine weitere Geste der Verbundenheit mit der Ukraine war die Verleihung des Ehren-Herzen an den Regisseur Sergei Loznitsa, dem auch eine Hommage gewidmet war. Er war mehrere Tage in der bosnischen Hauptstadt, gab eine sogenannte Masterclass und verriet, dass er an einem Film über den Krieg arbeitet, dessen Ende er nicht absehen könne. „Alles hängt von der Bereitschaft der USA und der Nato ab, der Ukraine Waffen zu geben“, sagte er.

Es sei auch eine Frage des Geldes und fügte an: „Nach sechs Monaten sehen wir, dass die Sanktionen dumm waren.“ Das kann man durchaus anders sehen. Loznitsa selbst war zu Beginn des Angriffs gegen die gesamte Ukraine in die Kritik geraden, weil er sich gegen einen Boykott russischer Filme auf Festivals ausgesprochen hatte.

Schauspieler Jesse Eisenberg ist Sarajevo-Fan

In Sarajevo gab es keinen offiziellen Boykott, allerdings fand sich nur ein einziger russischer Kurzfilm unter den über 220 Werken des Programms. Dafür war die Promidichte beim traditionell gern von Hollywood-Größe besuchten Festival bei der ersten Ausgabe nach zwei Pandemiejahren wieder hoch. Mads Mikkelsen holte sein Ehren-Herz von 2020 ab, die Regisseure Ruben Östlund, Michael Winterbottom und Paul Schrader gaben Masterclasses.

Schauspieler Jesse Eisenberg, der sein Regiedebüt vorstellte, ebenfalls. Dem Star aus Filmen wie „Social Network“ oder „Zombieland“ gebührt der Titel des enthusiastischsten Sarajevo-Gastes in diesem Jahr. „Das ist die interessanteste und coolste Stadt auf der Welt“, sagte er bei seiner Masterclass, „und ich bin schon ziemlich herumgekommen.“ Seit er an dem in Bosnien und Herzegowina spielenden Film „Hunting Party“ mitgewirkt habe, sei er besessen von der Geschichte des Landes, das er auf jeden Fall wieder besuchen werde.

Snježana Sinovčić spielt in “Sigurno mjesto” die Mutter eines psychisch kranken jungen Mannes.Foto: Pipser

Im abwechslungsreichen Wettbewerb waren die Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens mit drei von acht Beiträgen gut vertreten. Die aus Sarajevo stammende Aida Begić ging mit ihrer „Balada“ allerdings ebenso leer aus wie der Slowene Dominik Mencej mit seinem Coming-of-Age-Film „Jahami“. Der große Gewinner kommt aus Kroatien und heißt Juraj Lerotić. Sein Regiedebüt „Sigurno Mjesto“ bekam das Herz von Sarajevo für den besten Film, er selbst wurde als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet. Eine nachvollziehbare Wahl, denn dieses bewegende Drama lebt nicht zuletzt von seiner Darstellung des Filmhelden Bruno, der seinem jüngeren Bruder Damir (Goran Marković) nach einem Suizidversuch das Leben rettet.

In den folgenden 24 Stunden, die der rund hundertminütige Film umfasst, bringen Bruno und seine Mutter Damir auf dessen Wunsch von Zagreb ins heimische Split. Sie sind zusehends überfordert mit dem immer stärker von seiner psychischen Krankheit dominierten Damir.

Häufig durch Glasscheiben gefilmt oder mit angeschnittenen beziehungsweise durch Schnitte getrennten Figuren, wird die Entfremdung der Familienmitglieder anschaulich. Bruno ist einige Male rennend zu sehen, dabei ist es sein fast nur sitzend oder liegend gezeigter Bruder, der hier alles bewegt.
„Sigurno Mjesto“ beruht auf Juraj Lerotićs eigenen Erfahrungen. Ihn bei der Preisverleihung ausgelassen im Kreis seines Teams feiern zu sehen, war ein wunderbarer Schlusspunkt des Festivals.