Depeche Mode live in Berlin: Packende Geisterbeschwörung im Olympiastadion
Nur einmal kommen sie sich nah. Bei „Waiting For The Night“ stehen Dave Gahan und Martin Gore nebeneinander auf dem Laufsteg im Innenraum des Berliner Olympiastadions. Ihre Stimmen brauchen einen Moment, bis sie sich gefunden haben. Doch dann schweben sie in wunderbarer Harmonie durch diese nur von einem Keyboard begleitete Ode an die nächtliche Erlösung. Das von Telefon-Lämpchen erleuchtete Rund ist in eine andächtige Stimmung gefallen, die in warmem Applaus übergeht, als die Musiker sich nach dem Lied kurz umarmen und voreinander verbeugen.
Erinnerung an Fletch
Den Rest des Zugabenteils verbringen sie wie den gesamten 135-minütigen Auftritt: mit viel Abstand voneinander, jeder in seiner Welt, ohne Interaktion. Dass die beiden Depeche Mode-Mitglieder nicht gerade ein inniges Verhältnis haben, wird unmittelbar anschaulich. Umso mehr als ihnen seit dem unerwarteten Tod von Gründungsmitglied Andrew Fletcher im vergangenen Jahr das vermittelnde Element fehlt. Dem Keyboarder ist der Song „World In My Eyes“ gewidmet, auf den Screens neben der Bühne sind Schwarz-Weiß-Fotos von ihm zu sehen, die ihn in jungen Jahren zeigen.
Es ist mehr als bitter, dass „Fletch“ nicht mehr Depeche Modes Erfolg mit dem Album erlebt, an dem seine Kollegen schon vor seinem Tod zu arbeiten begonnen hatten – und deren geradezu unheimlicher Titel „Memento Mori“ ebenfalls schon vorher feststand. Diese 15. Platte der 1980 gegründeten Band ist ihre beste in diesem Jahrtausend. So viel aufrichtiges Kritiker*innen-Lob wie im März haben die Briten lange nicht zu hören bekommen.
Warum sie „Memento Mori“ – genau wie das Konzert – allerdings mit dem sich zäh dahinschleppenden „My Cosmos Is Mine“ eröffnen, bleibt rätselhaft. Die treuen Berliner Fans lassen das Stück relativ stoisch an sich vorüberziehen, wissen sie doch, dass es gleich richtig abgehen wird. Und das tut es auch: „Walking In My Shoes“ knallt kantig in das bis unters Dach gefüllte Stadion, und „It’s No Good“ wird schon bei den ersten Tönen jubelnd begrüßt.
Gore und Gahan legen schnell ihre silbrig glänzenden Jacketts ab, spielen irgendwann nur noch in Westen über dem nackten Oberkörper. Beide sind 61, drahtig und gut in Form. Gahan tanzt über die gesamte Bühnenfläche, dreht zahlreiche Pirouetten und setzt vor allem seine Arme in flamboyant-markanter Weise ein. Auch wenn er sich mal in den Schritt fasst, hat das nichts mit der toxischen Männlichkeit zu tun, die in der kommenden Woche an gleicher Stelle von einem fast gleichaltrigen deutschen Sänger zelebriert werden wird.
Depeche Mode kommen für eine Stadionband fast schon bescheiden daher. Light-Show und Videoprojektionen sind solide, ohne viel Aufsehen zu erregen, es gibt kein Feuerwerk, nicht mal Konfetti. Und mit Christian Eigner und Peter Gordeno haben Gahan und Gore nur zwei weitere Musiker dabei. Mehr ist aber auch nicht nötig, denn sie haben das Entscheidende: tolle Songs. „Everything Counts“ zum Beispiel, das zu einem frühen Mitsing-Höhepunkt wird, oder „Ghosts Again“, die überragende Single vom neuen Album, bei der Gore sein altes Melodietalent an der Gitarre wieder zum Strahlen bringt.
Für zwei Songs hat Gore die Bühne für sich und zeigt seine beachtlichen Gesangsqualitäten, ganz besonders als er sich mit so viel Herz in den Refrain von „A Question Of Lust“ wirft, dass man dessen leichte Kitschklebrigkeit völlig vergisst. Nach der Klavierballade „Soul With Me“ kommt Dave Gahan zurück, lobt den Kollegen („absolutely wonderful“) und drückt das Gaspedal nochmal tief durch.
Auch als Duo bleiben Depeche Mode live eine Wucht. Sie lassen ihre Fans lächelnd in die Nacht gehen, auf der Heimfahrt bekommt sogar der S-Bahnfahrer Applaus von ihnen.