Samouil Stoyanov beim Theatertreffen ausgezeichnet
Mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis wird jedes Jahr zum Ende des Theatertreffens eine junge Schauspielerin oder ein junger Schauspieler für eine besondere Leistung geehrt. Die Auszeichnung ist mit 5000 Euro dotiert, sie wird von der Alfred-Kerr-Stiftung in Erinnerung an den großen Berliner Theaterkritiker verliehen und vom Tagesspiegel unterstützt. Jurorin in diesem Jahr war die Schauspielerin Valery Tscheplanowa. Sie gastierte mit Inszenierungen von Dimiter Gotscheff und Frank Castorf in früheren Jahren beim Theatertreffen und erhielt, ausgewählt von Edith Clever, 2014 selbst den Kerr-Preis.
Zehn Aufführungen durfte ich sehen und zehn Mal durfte ich staunen. Als erstes staunte ich über das immer noch lebendige Pointen- und Timinghandwerk und das Ineinanderzahnen von jungen und alten Theatermachenden, die sich genüsslich die Butter vom Brot nehmen in „Tartuffe“. Ich staunte über die bescheidene und unmittelbare Bereitschaft, eine Geschichte zu erzählen wie in „Ein Mann seiner Klasse“.
Manche Theatermachende scheinen noch am Probentisch zu sitzen
Ich staunte über die filigrane japanische Miniatur „Doughnuts“ (Thalia Theater Hamburg) , in die eine Handvoll Europäer gestopft war wie in eine Sardinendose und die dort sehr verwundert und vergnüglich um Pointen rangen, und ich staunte darüber, dass das gemeinsame Lesen eines Textes ein Theatervorgang sein kann wie in „All right. Good night“.
Auch über die unzähligen kleinen, verwinkelten Wendungen, Sackgassen, Umwege und Abzweigungen in „Das neue Leben“ vom Schauspiel Hannover staunte ich, noch mehr aber, dass den Bärenanteil an Bühnenzeit nicht Menschen, sondern eine kreisende Lampe bekam.
Dann staunte ich auch über mich. Ich war nicht in der Lage, mich von mir fremden Schauspieler:innen anfassen zu lassen und Anweisungen zu befolgen, auch wenn ich eine Karte gekauft hatte, die diesen Vorgang als Theateraufführung beschreibt. Ich verließ „Die Ruhe“ nach drei Stunden.
Schließlich staunte ich darüber, dass mir manche Theatermachende so vorkamen, als säßen sie noch immer am Probentisch oder sind nur scheinbar aufgestanden und auf die Bühne gegangen, als wollten sie mir einen halbfertigen Schuh verkaufen, und ich soll für die Erklärung, warum der Schuh nicht fertig ist, und für den unfertigen Schuh den vollen Preis zahlen.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Auch konnte ich nicht herausfinden, warum ein 200 Jahre altes Narrativ, das auf der Bühne (bei der „Jungfrau von Orleans“) als veraltet beschrieben wurde, trotzdem diskutiert wird. In der Zwischenzeit haben ja unzählige Dichter den Griffel geschwungen, da lässt sich doch bestimmt ein passendes Narrativ finden. Auch war es mir bisher so vorgekommen, als sei Theatersingen ein anderes Singen, ein unmittelbares, unverstärktes, ungeschöntes, und wenn das Proben und Spielen mir Freude machte, habe ich für mich selbst die Unterstützung von Video, Mikrofonen und pompösen Kostümen nicht vermisst. Für derlei Utensilien haben die Kolleg:innen im Popgeschäft definitiv das bessere Budget.
Und wenn schon Diskurs, wenn schon Theoriegesänge, dann so unverschämt protzig, charmant und überbordend wie in „Like Lovers Do“. Da staunte ich, dass so viele drastische Worte in bunter Verpackung etwas wie ein heiteres Vergeben auslösen.
Auch sah ich junge Menschen, viele junge Menschen, die Figuren spielen wollten und konnten und die den Willen, von einer Person oder Figur zu erzählen, zu mir in den Zuschauerraum schmugelten – am Bühnendiskurs und den Regieambitionen vorbei.
Nikolai Gemel, der im „Mann seiner Klasse“ leise ein Menschenleben wegträgt, Phillip Grimm, Jannik Hinsch und Henriette Hölzel, die im „Tartuffe“ das Dach vom Schauspiel Dresden abtragen, Annemarie Brüntjen, die zwanzig Minuten die Johanna von Orleans anskizziert, Vassilissa Reznikoff, die sich als Agnes in der „Jungfrau von Orleans“ in eine Figur träumt, hartnäckig, Gro Swantje Kohlhof, die bei „Like Lovers Do“ ohne eine Kamera auf der Bühne filmisch spielt, Vadina Popov, die in „Slippery Slope“ am Maxim Gorki Theater eigentlich kein Autotune auf ihrer Stimme braucht, Anna Drexler, die sich im „Neuen Leben“ Bühnenzeit ergaunert in Konkurrenz mit jener Lampe, und Johannes Hegemann, der als japanischer Hotelangestellter („Doughnuts“) in einem fremden Humor heimisch wird.
Und dann war da „humanistää!“. Ein Menschengedicht voller Schmerzwitz und Sprachtanz und ein Ensemble, dem ich in Gänze gern die Penunsen vom Kerrpreis überweisen würde. Aber es gibt ihn: den Unterschied.
Samouil Stoyanov, was für ein Klumpen Präzision und Grazie. Gleich am Anfang, da war er noch mit einer Maske verdeckt, fragte ich mich, wer tanzt da so kampfbereit Sprache. Dann folgte viel gute Ensemblearbeit und dann sein großer Monolog, und Samouil Stoyanov vom Wiener Volkstheater macht aus Ernst Jandls klugen, kargen Sätzen einen nachdenklichen Kraftakt, schwitzt die Sprache und lässt mit dem Weglassen des Wortes „Dritter“ unser Blut gefrieren.
Ich dachte nur, lieber Himmel, lass ihn nicht 50 sein, denn von fünf bis 50 hatte ich in diesem erstaunlichen Wesen alle möglichen Alter, Geschlechter und Figuren umhergehen sehen. Nach dem Schlussapplaus also schnell auf die Straße und googeln, Samouil Soyanov 33. Bingo, der Kerrpreis 2022 geht an Samouil Stoyanov!