Verzweifeltes Festhalten an der Welt
Der Mensch versucht ein Leben lang, jeden Gedanken an den Tod von sich fernzuhalten. Aber konfrontiert mit dem physischen Ende eines geliebten Menschen wird die Intimität des schutzlos ausgelieferten Körpers zur einzig realen, einzig tröstlichen Erfahrung. Das Kino ist eigentlich ein unangemessener Ort, um diesen Prozess zu begleiten, weil körperliche Nähe automatisch eine voyeuristische Note bekommt; und die Bildgestaltung einen profanen Vorgang überhöht.
Das Kino bleibt der materiellen Ebene verhaftet, seine Unzulänglichkeit ist auch ein metaphysisches Problem. „Wir haben es gelernt, im Sexuellen unsere Körper rückhaltlos den Anderen zu geben,“ zitiert Juliane am Sterbebett ihrer Mutter Kerstin Simone de Beauvoir. „Aber wir haben noch nicht gelernt, uns auch unsere Seelen gegenseitig anzuvertrauen.“
Jessica Krummacher ist mit ihrem zweiten Spielfilm „Zum Tod meiner Mutter“ etwas eigentlich Unmögliches, in seiner schonungslosen Intimität so Zärtliches wie gleichzeitig schwer Erträgliches gelungen. Sie hat einen Film über den Tod ihrer eigenen Mutter gedreht, mit zwei Darstellerinnen, deren zurückgenommenes Spiel im lakonischen Titel eine Art Anleitung gefunden hat. Die Emotionalität eines Abschieds ist in Krummachers Film über weite Strecken äußerlich – vielleicht auch im sanften Widerspruch zu Beauvoir. Kerstin verbringt ihre letzten Wochen zwar auf der Palliativstation eines katholischen Pflegeheims, aber ihr bevorstehender Tod hat keine spirituelle Dimension, es geht nicht um ein ewiges Leben.
Die Welt ist geschrumpft auf das Ausmaß dieses elenden Zimmers
Der Tod wird vielmehr auf einen körperlich nachvollziehbaren Vorgang reduziert: durch Berührungen der immer brüchigeren Haut, beim Waschen, beim Nachspüren des schweren Atems, dem Massieren der Füße. Die Kamera von Gerald Kerkletz rückt ganz nah an Birte Schnöink, die Juliane spielt, und Elsie de Brauw in der Rolle von Mutter Kerstin heran, die bettlägerig ist und kaum noch sprechen kann. „Die Welt ist geschrumpft auf das Ausmaß dieses elenden Zimmers“, sagt Juliane einmal aus dem Off. Abwechslung bieten nur die täglichen Pflegeroutinen und die Besuche alter Freundinnen, die von Kerstin Abschied nehmen wollen. Aber ihre tröstenden Worte erreichen Juliane nicht.
Doch so erschütternd, wie Krummacher den körperlichen Zerfall Kerstins schildert, hat „Zum Tod meiner Mutter“ auch seine lichten Momente. Wenn Juliane im umliegenden Wald spazieren geht und Kerkletz’ Kamera sich plötzlich für eine Welt außerhalb des Schmerzens öffnet – in gleitenden Plansequenzen. Oder der Besuch mit Freunden in einem pfälzischen Gasthof: am selben Tisch, an dem Helmut Kohl seinen geliebten Saumagen verspeiste.
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Kulinarische Ausflüge sind in der ersten Hälfte des Films noch ein wiederkehrendes Motiv, im ironischen Kontrast zur Tatsache, dass Kerstin die Nahrungsaufnahme verweigert, um sich zu Tode zu hungern. Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland strafbar, und Kerstin will keinem Menschen zumuten, sich zu ihrer „Komplizin“ zu machen.
(In den Berliner Kinos fsk, Hackesche Höfe, Wolf)
Und so verbringt Juliane ihre Tage damit, in diesem „elenden Zimmer“ ihre Mutter beim langsamen Wegdämmern zu beobachten, dem Verlust ihrer Persönlichkeit. „Es sind die Auflösungserscheinungen, die die Außenwelt auflösen“, beschreibt sie diesen Prozess. Der Widerstand schwindet. Anfangs fordert Kerstin noch aus einem Impuls heraus von der Pflegerin mit schroffem Unterton Morphium gegen den Schmerz – wenn die Ärzte sie schon nicht sterben lassen. Eine Reaktion, die Juliane so verblüfft, dass sie losprusten muss. Aber bald kann sich die Mutter nur noch mit Keuchen und Stöhnen artikulieren, erschöpft legt sich Juliane zu ihr ins Bett. Körperliche Nähe ist wie eine verzweifelte Umklammerung der sich auflösenden Außenwelt.
Zuspruch erhält Juliane ausgerechnet von einer dementen Patientin, die sich ins Ärztezimmer verirrt hat. „Ist der Schmerz angesichts der völligen Auslöschung der Existenz denn zweitrangig?“, will Juliane von dem Palliativarzt wissen. Die alte Frau steht wie abwesend neben ihr, doch dann sagt sie, für einen Augenblick völlig klarsichtig, ein einziges Wort. Nein.