Autobiografischer Comic „Paul zu Hause“: Montréaler Midlife-Crisis

Kurz nachdem sein neues Buch erschienen war, erhielt Michel Rabagliati sorgenvolle Nachrichten von Freunden und Bekannten. Sie hatten Angst, er wolle sich etwas antun, sich vielleicht gar das Leben nehmen, wie der populäre Montréaler Autor in Interviews erzählte.

Er konnte sie beruhigen: Ja, es sei ihm lange Zeit nicht gutgegangen. So wie Paul, der Hauptfigur seines autobiografisch geprägten Buches. Aber er sei inzwischen wieder stabiler. Die im Buch geschilderten Erlebnisse basierten zwar auf seinem Leben, aber die schlimmste Zeit liege jetzt schon ein paar Jahre zurück.

Ein zartes Grau ist die vorherrschende Farbe in „Paul zu Hause“, jener Comic-Erzählung, die jetzt im Wuppertaler Verlag Edition 52 auf Deutsch veröffentlicht wurde (Übersetzung Swantje Baumgart, 208 S., 25 €).

Zeitreise: Der Ich-Erzähler und seine Mutter in einer Szene aus „Paul zu Hause“.
Zeitreise: Der Ich-Erzähler und seine Mutter in einer Szene aus „Paul zu Hause“.
© Edition 52 / Edition 52

Düster sind auch die Themen, die Michel Rabagliatis gezeichnetes Alter Ego namens Paul umtreiben: Es geht um das Altern, den Tod, eine problematische Work-Life-Balance, die Einsamkeit nach einer Scheidung, depressive Phasen, gesundheitliche Sorgen und die ambivalente Bilanz des bisherigen eigenen Lebens. Kurzum: Die ausgewachsene Midlife-Crisis eines ohnehin seelisch labilen Mannes von Anfang 50.

Inspiriert von „Gaston“-Schöpfer André Franquin

Die Hauptfigur ist Comiclesern vor allem im französischen Sprachraum und Nordamerika wohlvertraut: Seit 1999 verarbeitet Rabagliati seinen Alltag, den gesellschaftlichen Wandel und das Altern seiner Generation in der fortlaufenden „Paul“-Reihe, die in Kanada und vor allem in Québec Bestseller-Status hat. Dank der Popularität dieser Comics, einer mit mehreren Preisen ausgezeichneten Verfilmung („Paul À Québec“) und regelmäßigen Auftritten in kanadischen Medien ist er in seiner Heimat ein Star, dessen Bekanntheit weit über die Comicszene hinausreicht.

Die große Kunst des 1961 geborenen Michel Rabagliati ist es, von diesen deprimierenden Themen so unterhaltsam und sensibel zu erzählen, dass man ihm gerne dabei folgt, auch im jüngsten Band. Das liegt zum Teil an der Selbstironie und den gut getimten Pointen, mit denen der an europäischen Comic-Vorbildern wie André Franquin („Gaston“) geschulte Autor seine Schilderungen leicht verdaulich macht.

Stimmungsschwankungen und Schlafstörungen

Szenen wie die erfolglose Suche des eher introvertierten Paul nach einer Partnerin in einem Café und auf einer Dating-Plattform im Internet sind humoristische Glanzstücke, ebenso wie ein als gruselige Bastelanleitung verarbeiteter traumatischer Zahnarztbesuch oder ein Tagtraum zur Smartphone-Fixiertheit der modernen Gesellschaft.

Die in klaren Linien ausgeführten, leicht karikierend überzogenen Zeichnungen der handelnden Figuren vermitteln auch optisch eine elegante, freundliche Leichtigkeit, die der Autor sogar dann beibehält, wenn es um existenzielle Dramen geht. Vor allem aber zeichnen das Werk von Rabagliati, der nach eigenem Bekunden unter starken Stimmungsschwankungen und Schlafstörungen leidet, eine enorme Sensibilität für die Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens aus.

Eine weitere Seite aus dem Buch „Paul zu Hause“.
Eine weitere Seite aus dem Buch „Paul zu Hause“.
© Edition 52 / Edition 52

Das wird in „Paul zu Hause“ unter anderem in jenen Szenen besonders deutlich, in denen der mit spitzer Nase, Dreitagebart und buschigen Augenbrauen gezeichnete Ich-Erzähler seine Mutter in ihrer letzten Lebensphase begleitet und dabei zunehmend kritisch auch auf sein eigenes Leben zurückschaut.

Als seine 19-jährige Tochter, die nach der Scheidung zu ihrer Mutter gezogen ist, Paul dann auch noch erklärt, dass sie ins Ausland geht und aus seinem an menschlichen Kontakten allemal schon armen Alltag verschwindet, scheint das Leben des Erzählers zunehmend dem halb abgestorbenen Apfelbaum zu ähneln, der in seinem Garten dahinvegetiert und eigentlich längst gefällt werden müsste.

Doch Rabagliatis Comic-Ich schafft es gegen alle Widrigkeiten, sich nicht vollends entmutigen zu lassen und seine Erzählung mit einer tröstlichen Wendung zu beenden.

„Pauls Persönlichkeit ist zu 100 Prozent meine, und die Dinge, die ihm widerfahren, sind zu 80 Prozent die Ereignisse meines Lebens“, hat Michel Rabagliati mal in einem Interview gesagt. „Ich arbeite natürlich mit der Autobiografie, aber es ist eine Autobiografie, die verändert wurde, um dem Leser zu gefallen.“ Er wolle, dass seine Seiten „den Leser mitreißen und unterhalten, auch wenn die Themen, die ich behandle, schwer oder schwierig sind“.

Jenseits der persönliche Ebene liest sich „Paul zu Hause“ zudem wie ein Kommentar zu drei Jahren Corona-Krise: Die Hauptfigur arbeitet als Illustrator im Homeoffice, der soziale Austausch ist auf das Nötigste reduziert, der Ich-Erzähler verbringt mehr Zeit mit sich alleine als ihm gut tut. Die vermeintliche Lockdown-Aktualität ist jedoch dem Zeitverzug der deutschen Ausgabe geschuldet: Das französische Original erschien bereits 2019, also kurz vor der Pandemie, die englische Ausgabe Ende 2020.

Wer jetzt nach der Lektüre wissen will, wie es Paul in den Jahren zuvor erging, sollte für die Lektüre der Vorgänger-Bände seine Französisch- oder Englischkenntnisse auffrischen: Von den insgesamt zehn in Kanada veröffentlichten „Paul“-Büchern liegt neben dem aktuellen Band bislang lediglich ein weiteres Buch auf Deutsch vor.

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