Der Skandal als Markenzeichen
So viel Sturm und Drang. Hans Neuenfels, der an diesem Montag tatsächlich schon 80 Jahre alt wird, umweht noch immer ein Hauch des Jungen und Wilden. Als er die Bühnen ab Mitte der 1960er Jahre zu erstürmen begann, geschah das zusammen mit seinen Protagonisten Ulrich Wildgruber, Elisabeth Trissenaar, Gottfried John im Stadttheater Heidelberg: mit den in gleißender Helle spielenden Revolutionsstücken „Dantons Tod“ von Georg Büchner und dem „Marat/Sade“ von Peter Weiss, gefolgt von der im Beat der Poprevolte schwingenden englischen Fußball-Revue „Zicke Zacke“ (1969), die ihm auch die erste Einladung zum Berliner Theatertreffen bescherte.
„Hans im Glück“ habe ihn nach der halbstündig bejubelten „Marat“-Premiere seine junge Frau und bis heute Lebenspartnerin und Lieblingsschaupielerin Elisabeth Trissenaar genannt. Doch Neuenfels warnte sie und sich, so steht‘s in seinem autobiografischen „Bastardbuch“: „Das Glück ist immer schon gewesen!“ Eine Variante von Günter Kunerts Verszeilen „Glück ist / gestern oder morgen“.
Diese Ambivalenz des Lebens, diese in der Kunst verdichtete Widersprüchlichkeit, die Kleists bis zum mörderischen Versehen der „Küsse und Bisse“ steigert, sieht Hans Neuenfels auch im eigenen Wechselspiel zwischen dionysischem Rausch und dem verstandeshell Apollinischen.
Es spiegeln seine Inszenierungen im Theater, der Oper und im Film ebenso wie sein Schreiben, ob in eigenen Stücken, Versen oder poetischen Essays. Elisabeth Trissenaar, die gebürtige Wienerin, hat über ihren aus Krefeld gebürtigen Hans gesagt: „Er ist der Rhein, ich bin die Donau.“ Zwei Ströme, die nicht zusammenfließen, sind da in gegenseitiger Spannung, Anregung, Aufregung, Zuneigung vereint.
Neuenfels‘ Gesamtkunstwerk ist riesig, oft rasend, abgründig, gipfelstürmend. Die Frankfurter 70er-Jahre an der Seite des Schauspieldirektors und Brecht-Schülers Peter Palitzsch, eines ausgleichenden Temperaments, und nebenan in der Oper begleitet vom Dirigenten Michael Gielen und dem klugen, an Adorno geschulten Dramaturgen Klaus Zehelein, sie haben Neuenfels so richtig berühmt gemacht.
Mit seiner „Aida“ brachte er schon früh koloniale Gewalt zum Vorschein
Seine „Medea“ mit Trissenaar in der Hauptrolle und Gummipimmelpenetrationen waren ein Skandal, der ihm seither oft als „Markenzeichen“ angeheftet wurde. Seine geniale „Aida“, die wie noch nie zuvor die kolonialistische Gewalt als Widerspruch der kolonialen, Afrika und Europa versöhnen wollenden Feier am Nil zum Vorschein brachte, markierte eine Revolution der Verdi-Interpretation.
Man mag nicht immer alles haarklein verstehen, zumal in Neuenfels ja auch der frühe Surrealist noch steckt, der einstige Sekretär des Pariser Rheinländers Max Ernst. Aber seine szenischen Metaphern sind so enigmatisch wie schlagend. Die abgetrennten Köpfe mehrerer Religionsstifter, unter ihnen der Prophet Mohammed, haben bei seinem „Idomeneo“ 2003 an der Deutschen Oper Berlin später zu Terrorwarnungen geführt. Aber: Wirken Religionen heute in der Realität ihrer Vertreter nicht oft wie abgetrennt und enthauptet von ihren Gründern?
Die Bayreuther „Lohengrin“-Inszenierung wurde Angela Merkels Favorit
Auch in Neuenfels‘ Bayreuther „Lohengrin“-Inszenierung 2010 erschien der Einfall, das wankelmütige Volk und Heer von Brabant als eine Herde von Ratten darzustellen, zunächst befremdlich. Die Aufführung ist dann, von ihr mehrmals besucht, zum Favoriten der Wagner-Liebhaberin Angela Merkel geworden.
Während der Ouvertüre stemmt sich da Lohengrin (erst Jonas Kaufmann, dann Klaus Florian Vogt) in einem stummen Vorspiel tagträumerisch gegen das ganze Bühnenbild. Als gelte es, das Drama, die Tradition gleichsam weg- und zurückzuschieben. Oder aber voranzubewegen. Auch das ein Sinnbild der Ambivalenz.
Jetzt hat Hans Neuenfels in seinem Charlottenburger Altbaudomizil nochmal ein Theaterstück geschrieben: „Die neue Werteschule“. Vielleicht kehrt der Jubilar, ein großer, herzlicher, von sanfter Ironie und Witz erfüllter Herr, damit auch zu seinen Anfängen zurück. Das Theater im Kopf, die Musik im Blut. Vivat!