Die Heimat zwischen Kreuzberg und Kurdistan

Zugehörigkeiten erforschen und sich darin eine Autonomie bewahren. Im Alltag feine Gesten zu beobachten und darin bewegliche Verhältnisse zu erzählen – nicht in großen Thesen, sondern in vertrauten Gesprächen. Das ist kein filmisches Programm, aber eine Haltung, der die Berliner Filmemacherin Serpil Turhan in ihrem vielgestaltigen Werk nachgeht.

Köy. Ein schönes kurzes Wort, Türkisch für Dorf. Turhan nähert sich in ihrem gleichnamigen Dokumentarfilm über den Zeitraum von drei Jahren drei kurdischen Frauen aus drei Generationen: der eigenen Großmutter Neno, politisch wache Chefin der Großfamilie, der Cafébetreiberin Saniye in Schöneberg und der jungen Aktivistin Hêvîn.

Herzstück des Films sind Gespräche zur politischen Lage in der Türkei – in der Nachfolge des Putschversuchs von 2016, des Verfassungsreferendums und der Einführung des Präsidialsystems, einhergehend mit der Kriminalisierung der Opposition. Wie auch Fragen von fragiler Zugehörigkeit und dominanten Zuschreibungen, eben all den Widersprüchen in der Selbstbehauptung.

„Köy“ beschreibt, wie sich die Türkei verändert hat und was das für die in Deutschland Aufgewachsenen oder hierher Eingewanderten bedeutet. Wie gefährlich es ist für Aktivist:innen dort. Offen, in einer Alltagssprache, voller Vertrauen und mit einer Haltung, die der Wahrhaftigkeit der Gesprächspartnerinnen gerecht wird.

„Mir war es wichtig, einen Raum für Begegnungen zu schaffen, in dem wir uns ehrlich über unsere Sehnsüchte, Ängste, Bedürfnisse und Hoffnungen austauschen. Es war, als würde ich mich in jeder dieser Frauen wiederfinden, obwohl wir so unterschiedliche Lebensentwürfe hatten,“ erzählt Turhan im Gespräch.

Das Dorf als Sehnsuchtsort

Spaziergänge strukturieren den Film, Ausblicke, die auf ein Hier und ein Dort verweisen – wie auch gelegentlich Bilder von Koffern und Kisten. So fühlt es sich an, als sei jeder Tag auch eine Aufbruchsmöglichkeit; und immer wieder erscheint ein Fenster im Bild, durch das sich die Sehnsüchte ausbreiten können. „Ich frage mich manchmal, ob es nur so eine Fantasie von einer Leerstelle ist, die man in sich trägt“, spricht die Filmemacherin aus dem Off. Saniye antwortet: „Ja, vielleicht. Weil wir nicht die Gelegenheit hatten, dort zu leben …“

Köy. Das reale Dorf in der Berglandschaft von Kurdistan und das Dorf als Sehnsuchtsort, in dem es sich besser atmen ließe, wenn nicht immer wieder Krieg ausbräche. Und manchmal ist das Dorf auch Berlin-Kreuzberg.

[Die Filmwoche Duisburg läuft vom 10. bis 14. November]

Die 1979 in Berlin geborene Serpil Turhan hat als Teenager in Thomas Arslans Filmen „Geschwister“ (1997) und „Der schöne Tag“ (2001) mit ihrer bezaubernden Hartnäckigkeit und autark-ironischen Präsenz einen nachhaltigen Eindruck im deutschen Kino hinterlassen. Nach einem Studium der Theaterwissenschaft führte die Begegnung mit dem beziehungsphilosophischen Filmemacher Rudolf Thome zu einer inspirierenden Zusammenarbeit. Als Hauptdarstellerin in drei Filmen, als Regieassistentin und später für das Casting: Für sieben seiner 28 Langfilme hat sie mit Thome gearbeitet. Das war ihre eigentliche Lehrzeit.

Turhan entwickelt ihr eigenes Genre

Prägend wird es für sie, der Kamerafrau Ute Freund, mit der sie „Köy“ gedreht hat, beim Lichtsetzen zuzusehen. In „Rudolf Thome – Überall Blumen“ (2017), ihrem alltagspoetischen Porträt des Filmemachers, treffen ein Spielfilmregisseur und eine Dokumentarfilmregisseurin aufeinander: Die Konflikte um Inszenierung und Selbstdarstellung bleiben nicht aus. Dem dürfen wir folgen, in heiterer Gelassenheit.

Der Schritt zum Dokumentarfilm war eine glückliche Entdeckung. Eine Miniatur über ihre Großeltern eröffnete Turhan die Freiheit dokumentarischen Arbeitens. Ab 2006 studierte sie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe bei Thomas Heise, er bietet ihr eine anspruchsvolle Reibungsfläche. Im Studium entsteht ein „Hörbild“ langer Gespräche mit drei in Kreuzberg aufgewachsenen Menschen mit migrantischer Geschichte, „Jahrgang 1976“. So entwickelt Turhan ihr eigenes Genre der intimen Gespräche.

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Aus einer Lese-Übung mit Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“ in einem Altenheim in Karlsruhe und selbstentwickeltem Orwo-Material montiert sie den 39-minütigen „Herr Berner und die Wolokolamsker Chaussee“. Berner erzählt freimütig von seiner SS-Vergangenheit. Der Film löste 2011 auf der Duisburger Filmwoche eine vehemente Diskussion zu Fragen von Täterpräsenz und der Verformung von Erinnerungen aus – und erhielt den Förderpreis des Festivals.

Die Zunge verlernt sich zu drehen

Seitdem besteht eine enge Verbindung zwischen Serpil Turhan und Duisburg, wo „Köy“ am heutigen Mittwoch die Filmwoche eröffnet. Der Film schlägt einen Bogen zurück zu ihren autobiografischen Arbeiten wie dem Diplomfilm „Meine Zunge dreht sich nicht“, der zwischen den Bergen Anatoliens und den Blumentöpfen auf einem Balkon in Berlin-Mariendorf entstand. Turhan geht darin ihrer Muttersprache und dem Sprachverlust im Gurbet, in der „Fremde“, nach. „Ich habe als Kind vieles nicht verstanden“, erzählt sie. „Ob wir Türken sind, Kurden. Es wurde auch immer wieder etwas anderes erzählt, je nachdem, wer gefragt hat.”

Die Zunge verlernt sich zu drehen. Turhan sprach als Kind etwas Kurdisch, inzwischen kennt sie nur noch einige Worte. Der Verlust in den assimilativen Prozessen und die Wege der Selbstachtung in ihrer tiefgreifenden Alltäglichkeit: In Serpil Turhans Filmen können wir auch etwas von unserer Wirklichkeit entdecken.