Im Schnellzug der Töne
In seiner Bigband sitzt Wynton Marsalis in der letzten Reihe. Etwas erhöht zwar, aber hinten, wo er einer von vier Trompetern ist. Und das ist Konzept. Jazz entsteht aus der Einheit der Unterschiede, doch ein Dirigent, wie es ihn bei Ensembles dieser Größe oft gibt, scheint beim Jazz at Lincoln Center Orchestra überflüssig zu sein.
Jeder der 14 Musiker und die eine Saxophonistin wissen, was sie tun. Außerdem ist, was sie tun sollen, auf Notenblättern notiert, die sich über mehrere Seiten erstrecken und so komplex, assoziativ und windungsreich sind, wie es dem Anspruch an eine „afroamerikanische Klassik“ gebührt. Die meisten Arrangements stammen von Marsalis selbst.
Wenn er sich allerdings für ein Solo erhebt und nach vorne tritt, begreift man, wie wenig es hier um Noten und Schrift geht und die Gültigkeit, die aus beidem hervorgeht. Man sieht einen Mann, der an diesem Tag vor genau 60 Jahren in New Orleans geboren wurde, tänzelnd und spielend wie auf einer Prozession um die Band herumgehen, seinem Instrument quengelnde Laute entlockend. Jeder Meter ein Schritt in die eigene Kindheit.
„Back to basics“: Marsalis blickt musikalisch zurück
Ein Stück hat er mit den Worten angekündigt, dass man nicht immer nach vorne gehen könne, sondern gelegentlich zurückblicken müsse. „Back to basics“, nennt er das. Die Komposition folgt denn auch zunächst einer verträumten Linie, die Anleihen beim Blues nimmt, bei Marching Bands und Marsalis die Gelegenheit für sein bestes Solo bietet an diesem Abend in der Berliner Philharmonie.
Als sei irgendwas in ihn gefahren, das selbst seine Kollegen nicht genau zuordnen können, schraubt er sich in rasendem Tempo immer höher, furioser und härter im Ton, bis er plötzlich – nicht mehr weiter weiß.
Der Ausnahmemusiker treibt sich selbst immer weiter voran
„Das ist Jazz.“ So sagt er es selbst. Auf dem Höhepunkt seines Könnens treibt sich dieser Ausnahmemusiker an den Rand der Bewusstlosigkeit, hört eine Stimme in seinem Kopf sagen, „ich sehe dich, ich sehe dich“. Beinahe wäre er weg gewesen, sagt Marsalis entschuldigend.
Es ist der Höhepunkt eines Konzerts, das wie zu erwarten ganz im Zeichen der Tradition steht. Man hört keine Wendung, keine Akkordfolge oder Bewegung, die nicht aus zahllosen klassischen Jazz- Aufnahmen bekannt wäre. Nichts ist wirklich überraschend an diesem Abend.
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Doch selten kann man eine Band so souverän und elegant das klassische Repertoire aus 80 Jahren Jazzgeschichte zusammenfassen hören wie bei dieser exquisit besetzten Formation, die sich der Pflege eben dieser Schwarzen Kultur verschrieben hat.
Aus welcher Spannung sie hervorgeht erzählt etwa „Big Train“. Die Komposition greift auf eine frühe Kindheitserfahrung von Marsalis zurück. Seine Familie habe in der Nähe der Bahngleise gelebt, erzählt er vorab. Als die Mutter von ihren älteren Söhnen wissen wollte, wie ein Zug klinge, habe Branford laut „UUUUhhhh“ gerufen, während der ein Jahr jüngere Wynton widersprach und meinte, „Konock-konock Konock-Konock“ sei passender. Aus beiden Elementen schält sich sodann ein elegisches Klangpanorama aus Lokomotiven und Güterwagen heraus, das mit Distanz und Nähe spielt, mit Echos und dem Lärm eines unmittelbar an einem vorüberdonnernden Schnellzugs.
Diese lautmalerische Komponente an Marsalis’ Musik, die mühelos amerikanische Industrialisierung und die Worksongs der Sklaverei zusammenführt und um die Sehnsucht nach Aufbruch und Freiheit erweitert, ist viel weniger oberflächlich, als man meinen mag. Sicher erschließt sich hier schneller, was gemeint ist, als in der spirituell aufgeladenen Stildichte von „Abyssinian Mass“.
Der Trompeter schafft mit seiner Musik ein Klima der Neugier
Aber tief ist sie vor allem darin, ein universelles Verständnis für banale Bedürfnisse zu vermitteln. Etwa dem Wunsch, gehört und gesehen zu werden. Wobei Marsalis’ humanistischer Anspruch sich in seiner faszinierenden Fähigkeit ausdrückt, alles, was man über Jazz zu wissen glaubt, zu bestätigen und gleichzeitig in ein Klima der Neugier zu überführen.
Am deutlichsten wird das in einem Stück für Solopiano, das Marsalis in Erinnerung an einen Workshop des Jazzfestivals von Marciac geschrieben hat. Da es ursprünglich von der unschuldigen Begeisterung der „Kids“ handelte, denen er Jazz beizubringen versuchte, zerfallen die Chanson-Elemente immer wieder in unartiges, chaotisches Geplänkel. Das ist Jazz, heißt es dazu in Marsalis’ 2008 erschienenem Buch „Moving to Higher Ground“.
Marsalis stammt aus einer Musikerfamilie, der Vater war Pianist
Für ihn selbst musste Jazz schließlich auch erst eine Offenbarung werden. Dabei wuchs Wynton in einer Musikerfamilie auf. Sein Vater war ein hochgeachteter Pianist, ständig waren Leute im Haus, deren lockere Art, miteinander über Musik zu reden, sie gleichzeitig klüger, gewandter und freier erscheinen ließ, als der Junge es gewohnt war.
Dennoch führten sie ein Leben im Abseits. Die Stars der 70er Jahre hießen Marvin Gaye oder Stevie Wonder. Und so empfand der Junge es zunächst als Strafe, von seinem Vater jeden Samstag zur Mr. Barkers Fairview Baptist Church Brass Band kutschiert zu werden. Was hatte er mit Dixieland zu schaffen? Dann doch lieber Haydn oder James Brown.
Danny Barker war sein Lehrer, er führte ihn zur Trompete
Aber es war etwas dran an der Begeisterung seines Lehrers Danny Barker für den ungehobelten Krach seiner Schützlinge und wie er den Kindern die Rolle jedes einzelnen Instruments erklärte. Eines leise und behäbig, aber treu. Ein anderes laut und stark und dafür vorgesehen, die Führung zu übernehmen. Letzteres ist die Trompete, Wyntons Instrument.
Er hat einmal gesagt, dass er sich wie Bix Beiderbecke vorkomme, der sich als Weißer immer weiter von dem entfernte, was er kannte. Als Marsalis vor 40 Jahren nach New York kam, musste auch er sich entfernen von dem, was allgemein als Jazz verstanden wurde – ein „Buffet“, wie Ted Gioia sagt, das jeden Hunger stillte.
Längst hat Marsalis’ kämpferischer Neo-Klassizismus sein agitatorisches Moment verloren. Seine Hausband am Lincoln Center fungiert vielmehr als Kolleg, in dem sich Nachwuchstalente wie die 29-jährige Saxophonistin Alexa Tarantino mit Veteranen wie Sherman Irby, 55, austauschen. Und selbstredend weiß dieser Kreis auch, wie man Party macht, als es an diesem Abend Zeit wird, „Happy Birthday“ zu spielen.