Christo und Jeanne-Claude machen Paris ein letztes Geschenk
Die Lichtregie muss höheren Ortes bestimmt worden sein. Als sich am Samstagmorgen um halb zehn die Absperrungen zum ersten Mal öffnen – die Security hat die Impfbescheinigung kontrolliert und die erwartungsvollen Menschen auf gefährliche Gegenstände gescannt –, kommt die Sonne durch. Regen war angesagt, der Tag wird schön und warm. Der Triumphbogen sieht aus wie eine Eisskulptur, sagt eine Besucherin aus Deutschland.
Doch schon ein paar Minuten später, kaum dass sich die Lichtverhältnisse geändert hätten, bekommt das glänzende Objekt, das den Triumphbogen ersetzt, einen hellgrauen Überzug, wie eine überraschende Wolkenformation. Am frühen Morgen war die Färbung rötlich, am Abend zuvor mit einem Stich ins Schmutzige. Der Eiffelturm in der Ferne, unverhüllt, wirkt mit einem Mal nackt, neidisch. Wo wäre sein Kleid?
Das Kunstwerk ist begehbar: Und wenn man daruntersteht und den Blick nach oben richtet, schaut man in den künstlichen Himmel aus recycelbarem, von einer Lübecker Firma hergestelltem Polypropylen. Ein Geschenkpaket wurde abgeworfen. Ein Riesenpräsent steht zur Abholung bereit. Handelt es sich um eine Computersimulation, ein Hologramm? Die Assoziation stellt sich ein bei der Betrachtung aus größerer Distanz, ein paar Hundert Meter die Champs Élysée hinunter. Jemand fühlt sich an die außerirdischen Monolithen aus Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ erinnert, die den Beginn der Zivilisation bedeuten, mit all ihren Schönheiten und Schrecken. Vielleicht ein zweites Taj Mahal?
„L’Arc de Triomphe, Wrapped“, so der offizielle Titel, setzt Fantasien, Träume, Wünsche frei. Das Wunder ist berührbar. Die Guides verteilen, wie einst am Reichstagsgebäude, die beliebten Reliquien, kleine Quadrate aus jenem Stoff, aus dem die neuen Räume sind, die Christo und Jeanne-Claude auftaten. Es wird fotografiert, als sei die Kamera soeben erst erfunden worden. Kein Winkel ist schräg genug, kein Bild erfasst das Ganze. Legt man sich auf den Boden, scheint das Ding sich entfernen zu wollen. Selfie mit Silberstreif: Die Verhüllungskunst lebt fort in der Enthüllungstechnik der Fotografie. Christos herkulische Arbeiten sind verewigt auf den Zeichnungen des Künstlers – und auf Millionen von Handybildschirmen, in der Cloud.
Als sei alles nur ein freundlicher Spuk
Bis zum 3. Oktober, 16 Tage lang, dauert das leise Spektakel. Und schon in diesen ersten Stunden wird geknipst, als würden die Bahnen am Abend wieder eingerollt. Als sei das alles nur ein freundlicher Spuk. Aber der Blick auf die Stadt verwandelt sich. Bei der Metrostation „George V.“, noch in guter Sichtweite des Triumphbogens, hat Dior sein Haus mit weißer Kunststofffolie verhängt. Da geht man unwillkürlich darauf zu und berührt die aufgedruckten Designerkleider.
In Paris haben sie sich kennengelernt, Christo und Jeanne-Claude, hier hat er seine erste öffentliche Installation realisiert. Ohne behördliche Genehmigung stapelte er im Juni 1962 in der Rue Visconti am linken Seineufer Ölfässer auf – seine reversible Version des Eisernen Vorhangs. Sechs Jahre zuvor war der junge bulgarische Künstler in den Westen geflohen. Aus der frühen Pariser Zeit stammt auch schon die Idee, den Arc de Triomphe zu verhüllen. Christo wohnte damals in der Nähe des Denkmals der Grande Nation, das ihn magisch anzog – und fertigte eine erste Studie für das Projekt.
Sechzig Jahre später schließt sich dieser Kreis. Christo starb im Mai 2020 kurz vor seinem 85. Geburtstag in New York. Seine Jeanne-Claude, Partnerin im Leben wie in der Arbeit, sofern sich das bei dem Paar trennen lässt, hatte er schon 2009 verloren. Sie wurde in Casablanca am 13. Juni 1935 geboren, am selben Tag wie ihr Mann. Und so ist es ein posthumer Triumph: Christos Team, angeführt von seinem Neffen Vladimir Yavachev, ein Jahr lang auch noch ausgebremst von der Pandemie, hat nun dieses letzte Projekt im Herzen von Paris in die Tat umgesetzt. Die Pariser Bürgermeisterin spricht von einer „Geste der Liebe“ in dem Moment, da das kulturelle Leben wieder erwacht.
Das wertet den Moment umso mehr auf
Ist das Geheimnis nicht längst gelüftet, jedenfalls tausendfach beschrieben? Seltsam, dass sich dieser Zauber nicht verbraucht. Man steht emotional angehoben vor einem logistischen Wunderwerk, das die Zahlen nur annähernd beschreiben: 25.000 Quadratmeter Stoff, drei Kilometer rotes Seil, 23 Firmen mit gut tausend Mitarbeitern, Gesamtkosten von 14 Millionen Euro, „voll finanziert von Christo und Jeanne-Claude“, wie es in der Pressemitteilung heißt.
Man wehrt sich fast dagegen, von diesem Coup überwältigt zu sein. Aber es kommt hinzu, dass das Reisen in der Pandemie wieder wertvoller geworden ist, ein Wochenende in Paris weniger selbstverständlich. Die Geschichte und die Geschichten von Jeanne-Claude und Christo inspirieren solche Gedanken. Sie müssen eine ungeheure Geduld aufgebracht haben. Das wertet dann diesen Moment umso mehr auf.
Immer wieder Paris: Bereits 1985 hatten Christo und Jeanne-Claude den Pont Neuf in Kunststoff gepackt. 1995 schenkten sie dem Reichstagsgebäude ein neues Kleid – ein unvergessliches Erlebnis und das einzig wahre Berliner Sommermärchen. Ins Werk gesetzt nach fast 25 Jahren Vorarbeit, Antichambrieren, Enttäuschungen, Rückschlägen. Nie gaben sie auf. Was das Paar erreichte und wie die beiden ans Ziel kamen, jedes Mal, sucht in der Kunstgeschichte seinesgleichen. Unvollendet, das war für Jeanne-Claude und Christo keine Option.
All diese riesig dimensionierten Eingriffe in das Stadtbild waren aber nie monumental. Im Gegenteil nahmen sie den mit Geschichte aufgeladenen Bauten die Schwere und das Dunkle, sie wurden ins Licht gesetzt. Jahrzehntelange Planungen für ein paar Wochen Glück und Gemeinschaft: Die Zauberkünstler Christo und Jeanne-Claude wussten die Zeit zu verdichten, sie intensivierten das Erlebnis von Kunst und Ästhetik, frei und für alle. In jedem Projekt des Paares steckt eine zutiefst demokratische Vorstellung, noch einmal unmittelbar zu erleben am Arc de Triomphe. Als lebten sie noch.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Napoleon hatte die Errichtung des 50 Meter hohen und 45 Meter breiten Bogens dekretiert, zur Ehre der französischen Armeen und seiner selbst. Aufgeführt zwischen 1806 und 1836, gilt er als Monument von Krieg und Frieden, mit dem Grab des Unbekannten Soldaten und der Ewigen Flamme, die auch während der Verhüllung bis zum 3. Oktober nicht ausgeht.
Harte Offizialarchitektur, zärtliche Annäherung
Der Bau betont die imperiale Macht, das Militärische, das Erbe Roms und seiner Legionen, nur größer. Der Sieg im Ersten Weltkrieg wurde hier gefeiert und die Befreiung von der Nazi-Besatzung 1944. Die Verhüllung beruhigt und entschleunigt. Das Areal ist an den Wochenenden für den Autoverkehr gesperrt. Um den Etoile herum herrscht eine andere Atmosphäre, die Geräuschkulisse, die Luft erscheinen ausgewechselt. Das eingewickelte und verschnürte Wahrzeichen wirkt verschlankt, eleganter. Im August 1919 flog der Pilot Charles Godfroy seine Maschine durch den Triumphbogen. Ein Nadelöhr, aber ein gewaltiges. Verhüllen statt entkleiden – der Gedanke stellt sich in der Modestadt Paris leicht ein – ist die erotischste Kunst.
Das silbrige Material betont die Umrisse, weicht die Linien auf und streicht die Essenz heraus. Endlose Vorstudien, kurze Laufzeit. Harte Offizialarchitektur, zärtliche Annäherung. Es sind diese Gegensätzlichkeiten, die Christos und Jeanne-Claudes Werk so faszinierend erscheinen lassen. Die Weltöffentlichkeit war ihnen stets sicher – und dann ist es immer schnell vorbei gewesen. Warst du am Lago d’Iseo bei den „Floating Piers“? Weißt du noch, die „Gates“ im Central Park in New York? Die Gespräche waren schon im Flugzeug nach Paris zu hören. Christo und Jeanne-Claude, daran besteht kein Zweifel, haben ephemere Pilgerstätten aufgebaut. So pilgert man nicht in den Louvre oder die Uffizien, denn die sind immer da. Bei den Verhüllungen ist am Ende nicht der Raum oder der Stein, sondern die Zeit der entscheidende Faktor. Sonst verpasst man die Epiphanie.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Kunst in großem Maße die Religion ersetzt hat, dann gibt es ihn hier. Ungläubig staunend, erfasst von einer starken Energie – oder ist es Autosuggestion? – läuft man um die Pariser Kaaba herum. Es war vorhersehbar, dass es noch einmal groß sein würde, noch so ein Wunder mit Ansage, aber das nimmt nichts vom Glanz – ganz sicher des letzten Christo-Werks in Europa. Möglicherweise kommt es noch dazu, dass „Mastaba“ in der Wüste von Abu Dhabi realisiert wird, eine Pyramide aus 44 000 Ölfässern, ein paar mehr als damals in der Rue Visconti, bei Christos Pariser Premiere vor sechs Jahrzehnten. Von Pyramiden träumte er schon damals. Noch einmal umgedreht, bevor es in die Metro geht: Ist dieser versilberte Arc de Triomphe in Wahrheit nicht eine Fata Morgana?