Zeig mir eine gute Zeit
Das Theater steht ja immer unter Gegenwartsdruck. Aber wenn die zehn bemerkenswerten Inszenierungen einer Saison zusammenkommen, dann steigen die Erwartungen an Hier-und-Jetzt-Dringlichkeit noch mal exponentiell. Dann ist plötzlich noch das entfernteste Säbelrasseln ein Kommentar zur Zeit.
Insofern wird es spannend sein zu beobachten, wie sich der diesjährige Jahrgang (13. bis 24. Mai, nur digital) gegen Pandemie-Lesarten aller Couleur behauptet.
Eine Geschichte aus dem Sanatorium
Klar liegt der Fall beim „Zauberberg“. Im Vorfeld der Livestream-Premiere am Deutschen Theater hat Regisseur Sebastian Hartmann selbst gespöttelt, Thomas Manns Roman raschele momentan sicher durch alle Dramaturgie-Etagen Deutschlands. Eine Geschichte aus dem Sanatorium für Lungenkranke? Keine weiteren Fragen.
Andere Stücke tragen den Gegenwartslink schon im Titel. Wie „Einfach das Ende der Welt“, Christopher Rüpings Jean-Luc-Lagarce-Inszenierung vom Schauspielhaus Zürich (die von einem todkranken Sohn erzählt, der sich ins Provinzelternhaus zurückbegibt, um tabula rasa zu machen, aber das nur am Rande).
Oder „Show Me A Good Time“ von Gob Squad – kann man das anders verstehen als einen Ruf nach Lockerungen in der Lockdown-Vereinzelung? Von Karin Beiers Rainald-Goetz-Uraufführung „Reich des Todes“ hier mal ganz zu schweigen.
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Aber es muss ja nicht immer Corona sein. Ein paar andere Aufregerthemen hat unsere Zeit ja schon noch zu bieten. Was umstandslos zu „Graf Öderland“ führt, Stefan Bachmanns Inszenierung der Max-Frisch-Moritat über einen Mann, der seine bürgerliche Existenz im wahrsten Sinne mit der Axt zerlegt.
Zumindest das verbale Kleinholzschlagen inklusive Sturz aus Amt und Würden ist ja aktuell geradezu die Königsübung. Jens Lehmann! Boris Palmer! Fritz Keller! Das Feuerwerk der Assoziationen wartet nur darauf, gezündet zu werden.
Heldinnen sind stark vertreten
Und dann ist da natürlich noch das Theater selbst als Stein des Anstößigen. Stichwort: Machtmissbrauch, Sexismus, Rassismus, Strukturkrise. Zumindest in Sachen feministisches Empowerment lässt sich die 10er-Auswahl nicht lumpen.
„Maria Stuart“ vom DT (Regie: Anne Lenk), Barbara Freys Burgtheater-Inszenierung „Automatenbüfett“, Leonie Böhms Zürcher Gender-„Medea*“ oder Marie Schleefs „NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+“ mit Anne Tismer als Marathon-Lecture-Performerin versprechen ein reiches Spektrum an Held:innen-Angeboten. Wobei andererseits natürlich nur gemutmaßt werden kann, ob all diese Produktionen auch wirklich unter solidarischen Bedingungen entstanden sind.
[Programm und Informationen unter: berlinerfestspiele.de]
Deswegen ist es gut, dass das Theatertreffen flankierend zur Kunst die Debatten-Reihe „TT Kontext“ anbietet. Unter dem Titel „Männlich, weiblich, divers“ werden Genderperspektiven auf die Inszenierungen geworfen.
Die Dramaturgin Anna Volkland befragt mit dem Impulsvortrag „Apparat und Anarchie“ das Stadttheater als „lernende Institution“ (wobei man sicher sein kann: es lernt nie aus).
Und sie nimmt neben der Dortmunder Intendantin Julia Wissert, der Schauspielerin Linda Pöppel und anderen Menschen aus der Praxis auch an einer Diskussion teil, die mit „How to: Power“ überschrieben ist und nach Macht, Verantwortung und der Möglichkeit der Veränderung fragt.