Ein großartiges Album von St. Vincent
Papa ist wieder zuhause! Ein in der Popmusik seltenes Ereignis. Denn wenn sich der Alte erst mal aus dem Staub gemacht hat, bleibt es meist dabei. In Songs über abwesende Väter, von Klassikern wie Johnny Cashs „A Boy Named Sue“ oder Neil Youngs „Old Man“ bis zu modernen Variationen wie Justin Biebers „Where Are You Now“, wird mit untreuen Erzeugern abgerechnet.
Auch Annie Clark hat unter ihrem abwesenden Vater gelitten. Aber die Sache ging am Ende gut aus, weswegen sie nun unter ihrem Alias St. Vincent das fantastische Album „Daddy’s Home“ (Caroline/Universal) veröffentlicht. 2010 wurde ihr Vater wegen Wertpapiermanipulationen zu zwölf Jahren Haft verurteilt.
Hochbegabte des Indie-Pop
Annie Clark galt damals im US-Indiepop als Hochbegabte, die das Versponnene einer Kate Bush mit Gitarrenvirtuosinnentum und zeitgemäßer Beat-Affinität kombinierte. Die Sache mit dem Vater hielt sie vor der Öffentlichkeit verborgen – um ihre jüngeren Geschwister nicht bloßzustellen.
Und doch veränderte die Leerstelle ihre Musik: Waren ihre Songs bis dahin schrullige Kabinettstückchen einer nerdigen Großstadtneurotikerin (in Oklahoma und Texas aufgewachsen, lebt die 38-Jährige seit geraumer Zeit in New York), kamen nun Widerborstigkeit und Zorn hinzu.
Ihre Alben „Strange Mercy“ (2011) und „St. Vincent“ (2014) machten sie weit über Indie-Kreise bekannt. Sie nahm eine Duo-Platte mit David Byrne auf und trat mit den Resten von Nirvana in der Rock and Roll Hall of Fame auf. Clarks Beziehung mit der Schauspielerin Cara Delevingne wurde von der Regenbogenpresse ausgeschlachtet. Und ein findiger Reporter buddelte die Geschichte ihres im Knast sitzenden Vaters aus.
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Als Reaktion machte Annie Clark den Panzer ihrer Kunstfigur noch undurchdringlicher. Das rehäugige Sensibelchen ihrer frühen Jahre hatte sich in eine Dominatrix verwandelt, die im knallroten Lackminikleid ihre E-Gitarre traktierte.
Mit dem feministischen Selbstermächtigungs-Pop von „Masseduction“ gewann Clark 2017 das Narrativ über ihre Karriere zurück – und manövrierte sich in eine Sackgasse. Denn die logische Fortsetzung der ebenso eingängigen wie schroffen Songs wäre jener Hochglanzpop gewesen, den „Masseduction“ andeutete, aber nicht wirklich bedienen wollte.
Antonoff produziert auch Taylor Swift
So blieb das von Kritikern bejubelte Album kommerziell Lichtjahre entfernt von den Sphären einer Taylor Swift, mit der sich Clark den Produzenten Jack Antonoff teilte. Die 2018 nachgereichte Single „Fast Slow Disco“ ist Höhe- und Endpunkt dieser Phase: Zum Eurodisco-Sound der 90er wird sie im Video von einem Pulk tanzender Lederschwuler fast begraben – heute, nach über einem Jahr ohne Clubs und Konzerte, ein Bild von schmerzhafter Schönheit.
2019 wird ihr Vater aus dem Gefängnis entlassen. Das familiäre Happy End richtet Annie Clarks Kompass neu aus. Als wäre eine tonnenschwere Last von ihren Schultern gefallen, klingt sie auf „Daddy’s Home“ so gelöst wie nie zuvor.
Statt frostigem Reißbrett-Pop dominieren entspannte Atmosphäre und eine analoge Wärme, die an große Platten der 70er denken lässt. Bei den Sessions in den legendären Electric Lady Studios in New York war wieder Jack Antonoff ihr Partner.
Der Auftakt „Pay Your Way in Pain“ ist, neben der funkigen Frau-schlägt-zurück-Rachefantasie „Down“, einer der wenigen Songs, die auf die Tanzfläche zielen. Die diamantharten Synth-Beats, gleißende Gitarrenriffs und eine Melodie, die David Bowies „Fame“ channelt, hätte auch Prince in seiner psychedelischen Phase ersinnen können.
An das Genie aus Minneapolis, dessen Gitarrenkünste Annie Clark gut studiert hat, erinnert auch das markerschütternde Kreischen im Titelstück, in dem sie ihre Gefängnisbesuche Revue passieren lässt.
Man kann die Texte nicht ungefiltert autobiografisch lesen. Annie Clark ist zu sehr Rollenspielerin, um ihr Privatleben auszustellen.
Das Derangierte ist ist Thema
Dennoch könnte die Figur, die in „Pay Your Way in Pain“ durch New York torkelt und von den Spielplatzmüttern misstrauisch beäugt wird, ebenso von eigenen Erfahrungen inspiriert sein wie die vom Kinderwunsch ihrer Partnerin überforderte Erzählerin im hymnischen „My Baby Wants A Baby“. Das Derangierte ist wiederkehrendes Thema und spiegelt sich in ihrem Retro-Look mit blonder Perücke, den sie von den gefallenen Heldinnen aus den Filmen von John Cassavates geborgt hat.
Im sechseinhalbminütigen „Live In The Dream“ schlagen in Treibsand versinkende Beats, irrlichternde Aloha-Gesänge und die wegdriftende Sologitarre einen kühnen Bogen von monomanischen Soundvisionären wie Harry Nilsson und Van Dyke Parks zu Pink Floyds „Dark Side of the Moon“. Die das Album leitmotivisch durchziehende elektrifizierte Sitar ist eine Verbeugung vor Steely Dan, der Lieblingsband von Annie Clarks Vater.
Sie huldigt Ikonen der Popkultur
Aus einem grandiosen Album-Flow zwischen Songwriter-Folk („Somebody Like Me“) und Soul-Rock („At The Holiday Party“) ragt „Melting Of The Sun“ heraus: Clark huldigt Ikonen der Popkultur wie Nina Simone, Tori Amos und Marilyn Monroe, die traumatischen Erlebnissen getrotzt haben.
Sacht schleichen samtpfotige Gitarrenakkorde heran, ehe sich ein Call-and-Response-Chorus der Sonne entgegen schraubt. Himmlisch!
In der Blüte ihres Könnens
„Daddy’s Home“ zeigt St. Vincent in der Blüte ihres Könnens, in einer Reihe mit Lana Del Rey, Angel Olsen oder Weyes Blood, denen in den letzten Jahren ähnlich brillante Platten gelungen sind. Annie Clarks sechstes Opus ist zugänglicher und abwechslungsreicher als alle Vorgänger.
Wobei sie ohne die im Gegenwarts-Pop nervende Beliebigkeit auskommt: Trap-Beats, Metal-Riffs, Dudelsäcke und Koloraturgesang zusammenmixen kann jeder. Annie Clark setzt auf einen organischen Albumsound, der in jedem Song ausdifferenziert wird.
Und sie vergisst über den Daddy Issues auch die Mama nicht: Drei ergreifende Songskizzen sind von Kindheitserinnerungen an ihre Mutter geprägt, die selbstvergessen summend das Elternhaus mit Melodien erfüllte.