Ukrainisches Kriegstagebuch (183): Das Schicksal der Autogramme

8. 12. 2023

Selbst für einen Frühaufsteher wie mich ist fünf Uhr morgens definitiv zu früh. Draußen ist es noch dunkel, der Regen prasselt auf das Fensterbrett und ich kann mich einfach nicht dazu durchringen, sofort aufzustehen. Mit der Hand taste ich nach meinem Iphone, das irgendwo rechts neben mir im Bett liegen soll. 

In meinem Internetbrowser sind Dutzende von Fenstern geöffnet – die Nachrichtenportale in verschiedenen Sprachen. Die erste Meldung, auf die ich heute stoße, wirkt nicht wirklich überraschend, in den neun Jahren seit dem Beginn des Krieges gab es bereits viele ähnliche Nachrichten. Aber warum fühle ich mich trotzdem immer noch so peinlich berührt?.

Ulitzkaja, Sorokin, Erofeev

Der in Montenegro ansässige russische Galerist Marat Guelman nahm in Vilnius an einer Auktion zur Unterstützung der auf der ukrainischen Seite kämpfenden russischen Legion „Freiheit Russlands“ teil. Dort versteigerte er ein Buch mit den Autogrammen von Ljudmila Ulitzkaja, Wladimir Sorokin und Viktor Erofeev.

Die drei mittlerweile in Deutschland lebende Schriftsteller*innen, die eigentlich als regimekritisch angesehen werden, veröffentlichten daraufhin prompt ein Statement, in dem sie erklärten, niemals militärische Organisationen, Kampfeinheiten oder Armeen unterstützt oder gefördert zu haben. Dazu äußerte Erofeev in einem Interview seine Besorgnis, dass diese Aktion den Verkauf ihrer Bücher in Russland beeinträchtigen würde. Er und seine Kollegen betonten, die finanzielle Unterstützung des Krieges sei für sie ausgeschlossen.

Mich beschäftigt die Frage, was mich eigentlich mehr stört – der Versuch der Autor*innen, die Verantwortung für das Schicksal ihrer Autogramme zu übernehmen (und sich gleichzeitig zu weigern, sie zu tragen) oder ihre aufrichtigen Zusicherungen, dass sie nicht gewillt sind, „Terroristen“ zu unterstützen (die für die Ukraine kämpfenden “Terroristen”, versteht sich!). 

Der Gedanke, dass ich vor vielen Jahren Bücher von allen dreien gelesen habe, macht mich dabei unbehaglich. Immerhin habe ich sie nicht gekauft, sondern ausgeliehen – wenn ich mich richtig erinnere, aus der Bibliothek der Humboldt Universität, als ich dort für drei Semester in den späten Neunzigern studiert habe.

Begeisterung für ukrainische Kultur

Nach dreiundzwanzig Jahren war ich gestern wieder an der Humboldt Uni. Ich wurde eingeladen, im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Re-thinking and re-imagining Ukraine at times of war and after“ über die Transformation der ukrainischen Musik zu sprechen. Als ich den Raum 1.101 suchte, fragte ich mich kurz, ob überhaupt jemand zu solchem Event kommen würde. Es war dann eine angenehme Überraschung, Dutzende von Besucher*innen im Auditorium zu sehen. Sogar nach unserem Gespräch mit Dr. Nataliya Tsisar, das deutlich länger als geplant dauerte, hatten sie noch viele Fragen an mich. 

Nach der Veranstaltung lernte ich eine freundliche Dame aus Dnipro kennen, die seit zwanzig Jahren in Deutschland lebt, und ihre Tochter, die hier aufgewachsen ist und nach dem Ausbruch des Großen Krieges letztes Jahr begonnen hat, Ukrainisch zu lernen. Während unseres Gesprächs stellte ich fest, dass sie die Sprache mittlerweile fließend beherrscht. Sie schenkte mir selbst gestaltete schwarz-weiße Aufkleber mit der Aufschrift „ruSSland fick dich“. Eine Journalistin, die ebenfalls im Publikum saß, bat mich um die Namen der Schriftsteller*innen, über die ich gesprochen hatte.

Auf dem Heimweg in der Straßenbahn studierte ich den Flyer, den ich von der Universität mitgenommen hatte. Dort wurden weitere Veranstaltungen bis Mitte Februar angekündigt: Vorträge, Lesungen ukrainischer Autor*innen, Filmvorführungen und sogar eine Ausstellungseröffnung. Zunächst freute ich mich darüber und überlegte, wie selten ich in all den Jahren, die ich hier lebe, eine solch lebendige Begeisterung für die ukrainische Kultur erlebt habe. Doch dann kamen mir die Gründe für dieses plötzliche Interesse in den Sinn und meine Freude verflog. 

Die Straßenbahn hielt, ich stieg aus und machte mich auf den Weg nach Hause. Beim Suchen nach dem Schlüssel in der Jackentasche stieß ich auf den Stapel Sticker, den ich gerade erhalten hatte. Ich nahm einen heraus und klebte ihn auf einen Laternenpfahl.