Spielen gegen den Fluss der Zeit
Keine Altersmilde, sondern das Gegenteil: Das ganze Lebensunglück, das Ringen mit sich, der Kunst und der Politik steckt in Dmitri Schostakowitschs Bratschen-Sonate op. 147, die der Russe krebskrank komponierte, als einzige ihrer Art, kurz vor seinem Tod 1975. Jeder Ton bäumt sich auf im zerfasernden, die Zeit zersetzenden Adagio. Ruinenmusik, schon zuvor im derben Bauerntanz des Allegretto, das Versatzstücke des Volkstümlichen aufliest.
Das voluminöse, tiefdunkle, selbst im Pianissimo spannungsvoll vibrierende Timbre von Antoine Tamestits Viola wird zum sinnlichen Ausdruck der Unversöhnlichkeit. Auch Alexander Melnikovs donnernder Klavierbass kennt kein Erbarmen, nicht einmal die plötzliche Mondscheinsonaten-Anmutung im Klavierpart kann etwas ausrichten. Beethoven verweht, angesichts der ruhelosen, flehentlichen Bratschenkadenz.
Überhaupt wird das Flehen und Ringen zum Grundmodus dieses Recitals im Kleinen Saal des Berliner Konzerthauses. Neben Schostakowitsch, dem das Haus gerade eine Hommage-Reihe widmet, stehen die auch für Bratsche spielbaren Brahms’schen Klarinetten-Sonaten op. 120 Nr. 1 und 2 auf dem Programm. Tamestit und Melnikov führen ein leidenschaftliches Zwiegespräch, einen manchmal unerbittlichen Disput, als sei jedes noch so kurze Motiv ein Gedanke, den es zu betrachten und dem es nachzusinnen gilt. Einerseits, andererseits: Ständig verlagert Tamestit sein Körpergewicht, auch musizierend wägt er ab, immer wieder.
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Beide, der französische Bratscher und der russische Pianist, der sich gleich zu Beginn der Ukraine-Invasion unmissverständlich gegen den Krieg geäußert hatte, sind Existentialisten ihres Fachs. Zwei Stars auf Augenhöhe, die auch Brahms maximal Expressivität abverlangen (der offene Schalldeckel des Flügels ist fast des Guten zu viel), mit kräftigen Farben, bezwingender Intensität und kongenialen kleinen Rubati. Ihr Spiel ist von der Verzweiflung dieser Tage geprägt, noch beim lieblichen Kopfthema von Brahms’ Es-Dur-Sonate wird einem bang.
Auch Brahms verweigert den steten Fluss der Zeit, führt Melodien an den Abgrund. Zur Musik, die nicht weiter weiß und sich der Stille überantwortet, passt Tamestits meisterliche Handhabung des Bogendrucks. Sein Spektrum reicht von der scharf angerissenen Saite bis zum ultrafederleichten, fast tonlosen Strich – kaum dass der Bogen die Saite noch berührt. Erst bei der Zugabe wird es kurz innig, mit dem Schlusssatz aus Schumanns Märchenbildern, einem gleichwohl wehmütigen Lied ohne Worte. Es klingt wie ein Friedensgebet.