Zwischen Protest und Pose, Hass und Homoerotik
So könnte ein Grafikkabinett auf einem Exoplaneten aussehen. Der Hauptraum der Ausstellung „Hirnsturm II“ ist von Schwarzlicht erfüllt. Bläulicher Dämmer, von grell strahlendem Papierweiß unterbrochen. Doch selbst bei Normalbeleuchtung wirken Marc Brandenburgs Zeichnungen wie außerirdische Erzeugnisse. Mit Ausdauer und Präzision verwandelt die „menschliche Kopiermaschine“ (Selbstauskunft) Fotografien zu Graphitzeichnungen. So weit, so fotorealistisch.
Doch als gäbe der bodenständig-bodenlose Künstlername das Programm vor: Die malerischen, mit drei Bleistiftstärken erzeugten Valeurs sind umgekehrt! Wie bei Negativstreifen sind die Schatten hell, die Lichter dunkel. Offene Münder glühen wie Lavaseen. Schwarzes Feuerwerk splattert über einen nächtlichen Kreidehimmel.
Ein Bettler kniet auf Straßenpflaster, das an eine endlose Schokoladentafel erinnert. Das Süße und das Bittere, Lust und Grauen – im schillernden Metallic-Look überlagern sich Bilder und Gegenbilder. Gespenstisch.
Es überwiegen Alltagsmotive, die der Künstler seit über 25 Jahren auf urbanen Streifzügen mit der Kamera festhält. Jahrmärkte, Fridays-for-Future-Demos, überladene Villen-Interieurs, der Gewitterhimmel über Berlin, der Tiergarten als Cruising-Area. Dazwischen Selbstporträts in diversen Larven, Trachten-Trägerinnen, Kultfiguren wie Michael Jackson, der Tod – ein dürrer Akt mit Totenkopfmaske –, eine Treppe herabsteigend.
Protest und Pose, das Sehnen und die Sucht, Hass und Homoerotik: Motivisch reißt Brandenburg ein gewaltiges Panorama auf, das kehrt die Überblicksschau im PalaisPopulaire deutlich heraus. Sein Bleistift registriert nicht nur persönliche Vorlieben. Auch Angstbesetztes wird pedantisch gezeichnet, gerahmt, UV-belichtet (das soll ohnehin keimtötend wirken). Brandenburg leidet an Coulrophobie, Panik vor Clowns, die dann trotzdem – oder gerade – aufs Papier müssen.
Risse in der Gesellschaft
Frei von verlogenem Elends-Chic zeigt er in Decken und Schlafsäcke gehüllte Menschen, die auf der Straße leben. Schönheit, die einen Stich gibt. An der Wand stoßen ein Designer-Logo und ein Haken-Kreuz-Tattoo hart aneinander. Der Künstler traut sich was. Risse in der Gesellschaft – ein heißes Thema? Marc Brandenburg hat die Abgründe schon längst im Blick.
Im ersten, noch hellen Raum hängen frühe Zeichnungen aus den 1990er Jahren, Blätter aus der Deutsche Bank Collection, in denen sich der Endzwanziger primär seinem Freundeskreis widmete. Schon hier porträtiert Brandenburg mit präzisem Strich, doch hier und da schnörkelt die Linie noch spielerisch heraus, bildet abstrakte Schleifen und Kringel.
Das Nüchterne, das Negativ, das Schwarzlicht entdeckt Brandenburg erst am Ende des Jahrzehnts. Dass man sich den Künstler – falls ein Bleistift zur Hand – als glücklichen Menschen vorstellen muss, deuten im zentralen Raum die chromglänzenden Kettenarmbänder an, Schmuck für Fans einer Metal-Band („Metallica I-IV“, 2020). Brandenburg hat sie während Quarantäne und Lockdown großformatig in verschiedenen Versionen gezeichnet. Die Sequenz hin- und herschlängelnder Kettenglieder lässt an einen schwerelosen Tanz denken.
Nach der Zeichnung ist vor der nächsten. Aus der Chronologie aber befreit sich die Berliner Präsentation von Wand zu Wand immer mehr. Was einen raumzeitlichen Wirbel, einen „Hirnsturm“ entfacht. Genauer: „Hirnsturm II“, weil es 2002 schon ein New Yorker Galerie-Solo gab. Einige Vorlagen verzerrt Brandenburg am Computer so, dass horizontale Schlieren entstehen, die an Reißschwenks in TV-Serien der 60er wie „Batman“ erinnern – den Sprung in eine parallele Handlungsebene.
Marc Brandenburgs Hyperrealismus ist auf grandiose Weise zweischneidig. Was den „Schnitt“, die Inszenierung angeht, mag der Künstler die Fäden sicher in der Hand halten. Zugleich entzieht sich das Drama der Bilder, ihr gesellschaftspolitischer Urgrund, seiner Kontrolle. Im Auge des Hirnsturms sind wir gefangen.
Früh kommt er mit der Punk-Szene in Berührung
Schwindelgefühle. Es fehlt an Bodenkontakt. Das hat wohl auch etwas mit Brandenburgs Biografie zu tun. Er wird 1965 in Westberlin geboren, als Sohn eines schwarzen GIs und einer deutschen Mutter. Auf Militärbasen in Texas wächst er auf, der Gewalt eines Stiefvaters ausgesetzt, der auch die Geschwister und die Mutter misshandelt. Als Zwölfjähriger kehrt er mit seiner Mutter nach Berlin zurück. Früh kommt er mit der Punkszene in Berührung, arbeitet als Türsteher im „Dschungel“, wohnt mit Christiane F. in einer WG und fängt ab 1984 an, autodidaktisch als Modedesigner zu arbeiten.
Mode bleibt Bestandteil seiner künstlerischen Arbeit. In seiner ersten institutionellen Ausstellung – 1992 im Künstlerhaus Bethanien – zeigt Brandenburg, der nie eine Akademie besucht hat, neben Zeichnungen eine Reihe von „Tarnpullovern für Ausländer“. Die Pullover mit passenden Kopfmasken sind eine bitter-ironische Einladung dazu, schnell die Hautfarbe zu wechseln, wenn der Aufenthaltsort es erfordert.
Tarnpullover als Antwort auf eine Werbekampagne und Krawalle
Mit der Kollektion parodierte Brandenburg die multikulturelle Werbekampagne von United Colors of Benetton. Vor allem aber entstand das Werk unter dem Eindruck der rassistischen Krawalle in Rostock-Lichtenhagen. Kurz nach den Übergriffen fuhr Brandenburg selbst durch den Ort, er war auf dem Weg nach Dänemark. Auf der Fähre wurde er dann selbst angepöbelt und attackiert.
[PalaisPopulaire, Unter den Linden 5, bis 23. 8 .; Mi-Mo 11-18 Uhr, Do 11-21 Uhr. Katalog (Kerber Verlag) 35 €.]
Inzwischen hat Brandenburg die Idee mit seinen „Camouflage-Pullovern“ (2018) wieder aufgegriffen. Die Strick-Identitäten entsprechen verschiedenen ethnischen Stereotypen und hängen an einem Kleiderständer im dritten Ausstellungsraum. In die Ganzkörper-Anzüge sind aber auch Freundinnen und Freunde des Künstlers geschlüpft, um sich in seinem Kiez von ihm filmen zu lassen. Die stummen Akteure der Dreikanal-Videoinstallation „Camouflage Pullover“ schlendern durch den Prenzlauer Berg und werden beim Mummenschanz von irritierten Passanten beobachtet.
Die weiße Schauspielerin Nicolette Krebitz setzt in einem Videosegment eine „schwarze“ Maske auf, und Mike Gessner, der dunkelhäutige Leiter des Kunstraums Potsdam, maskiert sich als milchgesichtiger Blondschopf. „Nicht die Intentionen der ‚Camouflage Pullover’ sind rassistisch, sondern die Assoziationen, die sie auslösen, ‚die Hirnstürme’, die sich freisetzen“, schreibt Kuratorin Sara Bernshausen im toll gemachten Katalog.
Die zentrale Figur der Schau, in der man sich – vor allem in den eigenen Projektionen – geradezu verlieren kann, ist die Maske. Mit dem Corona-Atemschutz hat diese Maske nichts zu tun. Die Frage, was hinter der Larve steckt, ist für Marc Brandenburg letztlich irrelevant. Es gibt ja auch keine „falschen“ und „richtigen“ Bildoberflächen bei ihm. Nur ein Kontinuum von Zeichnungen und Zeichen. Ein Fluidum, aus dem so etwas wie ein Gesicht unserer Zeit hervortaucht.