Der verspätete Westen: Die Historisierung der Bundesrepublik hat gerade erst begonnen

Seit ihrem Tod ist die DDR bekanntlich um einiges attraktiver als zu Lebzeiten. Es begann mit den Ostalgie-Shows, die vor 20 Jahren über die Bildschirme flimmerten und die DDR zum skurrilen Abenteuerspielplatz und gut verkäuflichen Label machten.

Die Filmproduktion zum Thema reißt seither nicht ab, ostdeutsche Alltagskultur wandert in eigens geschaffene Museen, Staatskunst wird ausgestellt und debattiert. Nicht zuletzt gewinnt das Ländchen zwischen Elbe und Oder, zum Stoff geronnen, seit einem Vierteljahrhundert Literaturpreise und entert die Bestsellerlisten. Nein, in Sachen postumer Aufmerksamkeitsakkumulation macht der DDR so leicht keiner was vor.

Die Bundesrepublik ging einfach weiter

Da sieht der Westen schlecht aus. Während der Osten seit seinem Beitritt zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland das spektakulär Markierte ist, bleibt dem Westen nur der Part der unmarkierten Normalität. Die niedersächsische Autorin Felicitas Hoppe hat das Dilemma für die westdeutsche Literatur, also ihre eigenen Texte der 1990er Jahre, einmal so beschrieben: „Ich stand schlecht da: Kein Krieg, keine Wende, nicht mal geschiedene Eltern.“

Ein gut gemeinter Imperativ jener Jahre lautete: „Lasst uns unsere Biografien erzählen!“ Aber die Biografien der Westdeutschen wollten die Ostdeutschen, damit beschäftigt, das neue Leben zu lernen, nur selten hören. Aus der ostdeutschen Perspektive des Erfahrungsüberschusses war im Westen einfach nichts Nennenswertes passiert.

Unmarkierte Normalität. „Ich stand schlecht da: Kein Krieg, keine Wende, nicht mal geschiedene Eltern“, schreibt die westdeutsche Autorin Felicitas Hoppe.
Unmarkierte Normalität. „Ich stand schlecht da: Kein Krieg, keine Wende, nicht mal geschiedene Eltern“, schreibt die westdeutsche Autorin Felicitas Hoppe.
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Zudem: Die Bundesrepublik gab es ja noch, sie ging einfach weiter. Dass man mit Datum vom 3. Oktober 1990 in einem anderen Land lebte, lag in Aachen oder Konstanz nicht auf der Hand. Westberlin war sicherlich ein Sonderfall. Mit der schillernden und hochsubventionierten Kulturinsel war es vorbei, das konnte ein schlichter Spaziergang über den Potsdamer Platz oder am Kreuzberger Mauerstreifen erweisen. Untrügliches Anzeichen für das Ende dieses Westberlins war das Verstummen seines hellsichtigsten literarischen Chronisten Bodo Morshäuser.

Die Erkenntnis, dass auch die alte Bundesrepublik zu Ende gegangen ist, hat es bis heute schwer. Das liegt auch daran, dass die Auswirkungen der Wiedervereinigung im westdeutschen Alltag oft überblendet wurden von anderen umwälzenden Prozessen: Das Internet veränderte seit Mitte der 1990er so ziemlich alles, Unternehmen verschmolzen und neue Global Player tauchten auf – Digitalisierung und Globalisierung krempelten das nunmehr vereinte Deutschland um.

Die DDR, ein dankbarer Gegenstand der Forschung

Anders als die DDR, die gleichsam über Nacht zum abgeschlossenen Gebilde mit bester Quellenlage mutierte und sich als dankbarer Gegenstand für zeitgeschichtliche, soziologische oder literaturwissenschaftliche Forschung anbot, wird die alte Bundesrepublik nur langsam historisch. Ein erster Schritt waren die Auseinandersetzungen über ein neues nationales Selbstverständnis und den differenzierten Umgang mit deutscher Schuld, die sich an Reden und Bücher von Autoren der Flakhelfer-Generation wie Martin Walser, Günter Grass oder des etwas jüngeren Uwe Timm anlagerten.

Heute sind es Schriftsteller wie Ulf Erdmann Ziegler oder Frank Witzel, die an der Historisierung der Bundesrepublik arbeiten. Erst wenn der Westen ebenso fremd wird, wie es der Osten schon ist, könnte aus den vielgestaltigen deutsch-deutschen Asymmetrien eine Beziehungsgeschichte werden.

Solange die DDR aber ein Alleinstellungsmerkmal trägt, bleibt sie Aufmerksamkeitsgenerator und kommerziell relevant. Das weiß man in Verlagslektoraten, Literaturagenturen, Zeitungs- und Rundfunkredaktionen. Die Debatten um die Bücher von Dirk Oschmann oder Charlotte Gneuß streichen noch heute eine Ost-Dividende ein. Ein wenig apart ist das schon, wird die Deutungshoheit über den Osten doch mehrheitlich in westdeutschen Medien verhandelt.