Die Macht der Lieder

Als die Nachricht seines Todes am Donnerstagvormittag bekannt wird, unterbrechen die Radio- und Fernsehsender in Griechenland sofort ihr Programm. Sie spielen seine Musik, erinnern an sein Leben. Mikis Theodorakis wird als Volksheld verehrt, ein Titel wie aus einer anderen Welt.

Errungen hat er ihn in einem langen Leben, in dem die Freiheit immer wieder auf dem Spiel stand und die Kunst nie nur sich selbst genügte, sondern an der Seite derer war, die Widerstand leisten. Seine Lieder sind Fahnen, die man zwar verbieten, aber niemals aus dem Gedächtnis löschen kann.

1942 wird er verhaftet

Unter welchen Schmerzen die Freiheit verteidigt werden muss, erfährt Mikis Theodorakis, der am 29. Juli 1925 auf der Insel Chios geboren wurde, schon früh. Er ist keine 18 Jahre alt, als er zum ersten Mal gefoltert wird. Griechenland unter Diktator General Metaxas kapituliert nach dem Einmarsch italienischer und deutscher Truppen.

Theodorakis, der bereits ein Schülerorchester gegründet hat und erste Lieder komponiert, geht in den Widerstand. 1942 wird er verhaftet, wenig später muss er mitansehen, wie ein Freund von der deutschen Wehrmacht erschossen wird.

Immer wieder gerät Theodorakis in die Schusslinie, wird verwundet von britischen Besatzern, halb tot geprügelt im aufziehenden Bürgerkrieg, interniert und gefoltert, bis er schwer an Tuberkulose leidet und durch den Wehrdienst in einen Suizidversuch getrieben wird.

Trotzdem gelingt es ihm, sein Examen als Komponist zu bestehen. Als Kind hatte Mikis seine Mutter nach den seltsamen Bewegungen gefragt, die er an einem Dirigenten beobachtet hatte. Er leide, erklärte sie ihm. „Da begriff ich, dass Kunst und Musik Schmerz bedeutet.“

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Der Musiker, der den jungen Theodorakis auf die Idee brachte, selbst zu komponieren, war Beethoven mit seiner Neunten und der Verheißung „Alle Menschen werden Brüder“. Dieser Vision folgt Theodorakis mit seinen linken Idealen und einer Musik, die tief verwurzelt ist in der religiösen Kraft von Byzanz, den Traditionen des Volkslieds und einer kritischen Auseinandersetzung mit der Nachkriegsavantgarde.

„Auserwählte der Gesellschaft sind keine Dialogpartner“, entgegnet er seinem Komponistenkollegen Iannis Xenakis. Theodorakis bringt in seiner Heimat Musik dorthin, wo noch nie Bach oder Beethoven zu hören war.

Seine Lieder schreibt er auf moderne Lyrik von Elytis, Seferis, Kalvos und Ritsos und macht sie damit einem großen Publikum vertraut. Nebenbei erfindet er mit seiner Filmmusik zu „Alexis Sorbas“ die Folklore seiner heillosen Heimat neu. Diese Musik ist von so eminenter Eingängigkeit wie der Beginn von Beethovens Fünfter, der „Schicksalssinfonie“.

Die seit 1967 herrschende Militär- Junta versucht, Theodorakis mit psychischer Folter zu brechen. Hungerstreik, Verbannung und Lagerhaft lassen ihn schwer erkranken, 1970 darf er sein Land verlassen. Kaum erholt, beginnt Theodorakis unermüdlich Konzerte zu geben, viele zusammen mit Maria Farantouri. Er wird endgültig zur Stimme Griechenlands, die Freiheit und Brüderlichkeit einfordert.

Er komponiert Symphonien, Opern, Kirchenmusik

Sein erster Auftritt nach dem Fall der Diktatur am 9. Oktober 1974 zieht Zehntausende ins Karaiskakis-Stadion von Athen. Theodorakis dirigiert seinen „Canto General“ nach Pablo Neruda, ein großer Mann mit mächtiger Mähne, die Welt umarmend. „Europa hatte keinen Che Guevara, es hatte Mikis Theodorakis“, schrieb Roger Willemsen rückblickend.

Doch die politischen Ziele des umjubelten Volkshelden scheitern, auch ihm gelingt es nicht, die Linke zu vereinen. Theodorakis, der unkorrumpierbare Künstler und Kämpfer, ringt mit der Resignation und beginnt nach langer Pause, ein Spätwerk jenseits seiner populär gewordenen Lieder zu komponieren.

Theodorakis schafft in den 80er Jahren eine ganze Reihe von Symphonien, er komponiert orthodoxe Kirchenmusik und eine Hand voll Opern, deren Heldinnen mythische Frauenfiguren sind wie Lysistrata, die dazu aufruft, sich den kriegerischen Männern sexuell zu versagen, um endlich Frieden zu schaffen. Theodorakis, der in die Abgründe des 20. Jahrhunderts geblickt hat, ist auf ihrer Seite.

Immer wieder erhebt er seine mächtige Stimme. Im Rollstuhl sitzend, protestiert Theodorakis gegen das Wirken der Troika in Griechenlands Schuldenkrise und wird durch eine Tränengasgranate verletzt. Es scheint, als wolle sich jedes System an ihm abarbeiten, ihn in seine Grenzen weisen.

Er hat es ausgehalten, unglaubliche 96 Jahre lang. „Die größte Enttäuschung meines Lebens besteht darin, dass ich aus ihm scheiden werde, ohne Griechenland so zu erleben, wie ich es mir erträume“, hat Mikis Theodorakis vor Jahren zu Protokoll gegeben. Doch sein Haus unterhalb der Akropolis stand jungen Künstler:innen offen, in ihren Fragen sah er Hoffnung.